Als der Ökonom und Soziologe Alfred Müller-Armack den Begriff Soziale Marktwirtschaft prägte, lag Deutschland in Trümmern. 1946 war der Zweite Weltkrieg gerade mal ein Jahr vorüber, die Wirtschaft lag am Boden. Müller-Armack plädierte dafür, den freien Markt mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs zu verbinden. Noch bevor die Bundesrepublik ihr Grundgesetz hatte, gab es damit eine wirtschaftliche Linie, die sich bis heute als Leitmotiv durchgesetzt hat.
Aber wie misst man, ob eine Gesellschaft wirklich Wohlstand für alle bietet? Darüber gibt es verschiedene Ansichten. Die Arbeitslosenquote ist ein Maßstab, die Höhe der Einkommen oder auch der sogenannte Gini-Koeffizient, ein international anerkanntes Maß für Ungleichheit. Dieser nimmt einen Wert zwischen 0 und 1 an, wobei 0 für absolute Gleichheit steht und 1 dafür, dass einer Person alles gehört. In Deutschland lag er 2014 für die Einkommen bei 0,31.
„Unbestritten ist, dass sich die wirtschaftliche Lage für viele Menschen in den vergangenen zehn Jahren teils deutlich verbessert hat. Fast sechs Millionen Menschen haben seit 2005 eine Arbeit gefunden, viele davon gute Arbeit, und die Einkommen sind für die Mehrheit der Beschäftigten gestiegen“, schreibt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher, ergänzt aber, dass nicht alle an diesem Aufschwung teilhatten. „Auf der einen Seite steht eine große Mehrheit, der es heute besser geht. Auf der anderen Seite steht jedoch ein nicht gerade kleiner Teil der Bevölkerung, der von Aufschwung und quasi Vollbeschäftigung nicht profitiert.“
Die Ungleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen wird auch in einer neuen Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung betrachtet. Demnach stiegen die höchsten Haushaltseinkommen zwischen 1991 und 2014 jährlich um 1,3 Prozent, während das durchschnittliche Wachstum bei 0,6 Prozent lag. Bei mehr als zehn Prozent der Menschen schrumpften sie sogar. Noch ungleicher verteilt sich laut ZEW-Studie der Wohlstand, wenn man die Vermögen betrachtet – also das, was die Menschen besitzen. 12,8 Billionen Euro betrug 2015 das Gesamtvermögen deutscher Haushalte. Davon gehören den vermögendsten zehn Prozent über die Hälfte, Tendenz steigend. Die unteren 40 Prozent besaßen 1993 gerade mal 1,8 Prozent des Gesamtvermögens, nun sind es minus 0,8 Prozent. Das heißt: Im Schnitt haben sie Schulden.
Wer armutsgefährdet ist, macht das Statistische Amt der Europäischen Union an Einkommensmittelwerten fest: Das ist das Haushaltseinkommen, das genau in der Mitte liegt und die Gesellschaft teilt. Wer weniger als 60 Prozent dieses verfügbaren „Median-Äquivalenzeinkommens nach Sozialleistungen“ bekommt, gilt als arm. In Westdeutschland lag die Armutsrisikoquote zwischen 1960 und dem Mauerfall einigermaßen konstant bei zehn Prozent, bis 2014 stieg sie auf ca. 14 Prozent, was auch mit der Wiedervereinigung zu tun hat. So kletterte das Armutsrisiko in den Neuen Bundesländern nach 1990 auf 35 Prozent, fiel bis zum Jahr 2000 auf zwölf und liegt heute bei 15 für die alten und 18,4 Prozent für die neuen Bundesländer.
Waren es in früheren Jahrzehnten noch vor allem ältere alleinstehende Menschen, die arm waren, sind es heute oft Alleinstehende im erwerbstätigen Alter. Und noch immer bestimmt auch die Herkunft die Chancen auf ein besseres Leben. Das heißt, wer aus einem ärmeren Haushalt kommt, bleibt eher arm als jemand, dessen Eltern wohlhabender sind. Die Chancengleichheit bei den Geschlechtern hat sich laut ZEW-Studie dagegen deutlich verbessert. Frauen verdienen heute deutlich mehr als früher und sind häufiger vollbeschäftigt.
Das Fazit der Forscher des ZEW lautet, dass es uns als Land noch nie so gut ging wie heute. Und dennoch komme der Wohlstand bei zu vielen nicht an, ist das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft immer wieder eine Herausforderung für die Politik, die etwa mit Steuergesetzen oder Bildungsausgaben für mehr Gerechtigkeit sorgen könne.
Dieses Ziel sehen Ökonomen noch durch eine andere Entwicklung gefährdet. So wird der Anteil der Löhne am volkswirtschaftlichen Einkommen, die sogenannte Lohnquote, immer kleiner, während der Anteil der Kapitalbesitzer ständig steigt. Manche Ökonomen erklären das damit, dass kapitalstarke, börsennotierte Firmen durch den globalen Kapitalmarkt zu Superfirmen wachsen, bei denen der Anteil der Lohnarbeit immer weniger ins Gewicht fällt. Dass diese Firmen kleinere Mitbewerber immer weiter hinter sich lassen, könnte dem Wettbewerb schaden und die Gesellschaft weiter spalten. So betrug die Lohnquote in Deutschland im vergangenen Jahr 68,7 Prozent, 2000 waren es noch 72 Prozent.