Ich gucke – aber nur mit schlechtem Gewissen
sagt Martina Keller
Eins vorweg: Ich freue mich über alle, die es schaffen, die WM-Spiele in Katar im Fernsehen zu boykottieren. Ich selbst gehöre leider nicht dazu. Allenfalls versuche ich, weniger zu schauen als sonst. Aber gar nicht gucken? Das schaffe ich nicht. Ich bin mir sicher: Spätestens wenn Deutschland in der Vorrunde gegen Spanien spielt, sitze ich vorm Fernseher, egal was ich mir vornehme. Ich kenne mich. Ich habe seit ich denken kann kein WM-Turnier verpasst. Und werde auch in Zukunft keines verpassen, außer ich sitze eines Tages dement im Altenheim und finde die Fernbedienung nicht mehr.
Dazu liebe ich diese Turniere zu sehr, vor allem die K.-o.-Spiele, die Dramen mit Verlängerung und Elfmeterschießen. Und ich bin Fan dieser Nationalelf, obwohl sie es mir zuletzt nicht leicht gemacht hat. Allein das Vorrundenaus bei der Weltmeisterschaft in Russland! Aber ich freue mich auf die Dribblings von Jamal Musiala, die Dynamik von Kai Havertz, die Grätschen von Antonio Rüdiger. Ich bin neugierig, ob diese Einzelkönner während des Turniers zu einer Mannschaft zusammenwachsen. Ich hoffe auf verrückte Spiele und Sensationen. Wie den Sieg Islands gegen England im Achtelfinale der Euro 2016.
Millionen schauen zu, da kann man die Bühne Fußball doch nutzen
Ich weiß: Das sind alles keine Argumente gegen den Boykott. Eher das Eingeständnis, dass Appelle an den Verstand bei mir in Sachen Fußball nicht fruchten. Vom Kopf her finde ich wie viele Fans, dass ein Boykott diesmal angemessen wäre. Denn das ist definitiv nicht meine WM.
Ich weiß: Katar will mit Mega-Sportevents sein Image aufpolieren. Auf WM-Baustellen sind viele Arbeiter gestorben. Homosexualität kann mit Gefängnis oder Auspeitschen bestraft werden. Von der Klimabilanz ganz zu schweigen: Weil das kleine Katar nicht genug Hotelbetten hat, werden Fans in Dubai einquartiert und für die Spiele eingeflogen. Klimaanlagen in den Stadien. Ein Wahnsinn!
Aber das Turnier wird nun mal stattfinden, und viele Millionen schauen am Bildschirm zu. Da kann man die Bühne Fußball auch nutzen. Im Vorfeld bringen die Medien fast jeden Tag eine Doku oder eine Diskussion zu Katar. Das darf nicht aufhören, wenn der Ball erst einmal rollt. ZDF-Reporter Jochen Breyer hat uns Fans das auch versprochen. Der öffentliche Druck könnte etwas bewirken, hat es auch schon getan. Katar hat das Kafala-System abgeschafft, eine Art moderne Sklaverei, zumindest auf dem Papier. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Das rechtfertigt auch nachträglich nicht die Entscheidung, das Turnier überhaupt an dieses Land zu vergeben.
Wie war das vor vier Jahren mit Russland?
Was aber wichtig ist: Die Opfer dieser WM müssen entschädigt werden. Dafür hat Human Rights Watch die Initiative #PayUpFIFA gestartet, da mach ich mit. Ich habe eben im Internet einen Brief an FIFA-Chef Gianni Infantino unterzeichnet, der die politische Diskussion abwürgen will. Und der von den 32 Teilnehmerländern verlangt, sie sollten sich auf den Fußball konzentrieren. Damit darf er nicht durchkommen. Die FIFA muss einen Fonds einrichten, aus dem Arbeiter und ihre Familien entschädigt werden. 440 Millionen Dollar sollten es mindestens sein – so viel zahlt die FIFA auch als Preisgeld an die teilnehmenden Teams.
Und noch etwas: Katar ist nicht das erste despotische Land, an das die FIFA ein Turnier vergibt. Wie war das vor vier Jahren mit Russland? Oder schon 1978 mit Argentinien, das damals eine brutale Militärdiktatur hatte? Künftig braucht es einen Kriterienkatalog für die Vergabe. Ein Land, in dem die Menschenrechte nicht zählen, darf nicht die Bühne bekommen, sich der Welt als Gastgeber zu präsentieren. Nach dem Turnier ist vor dem Turnier: Saudi-Arabien erwägt bereits, sich als Gastgeber für die Weltmeisterschaft 2030 zu bewerben.
Martina Keller ist Wissenschaftsjournalistin und hat ein Buch über ihr Leben als Hobby-Fußballerin geschrieben. Sie kickt aktuell in der zweiten Frauen-Mannschaft von Grün-Weiß Eimsbüttel
Ich boykottiere – das ist nicht mein Fußball
findet Volkan Ağar
Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann strukturiere ich meine Erinnerung mithilfe von Fußballweltmeisterschaften. 1998, als die legendäre französische Équipe Tricolore um Lilian Thuram und Zinedine Zidane Brasilien im WM-Finale mit 3:0 bezwang, war ich acht Jahre alt und gerade mit meinen Eltern in eine neue Stadt gezogen. Das Finale schaute ich mit Nachbarskindern, die ich erst an diesem Julitag kennengelernt hatte. 2002, ich war in der sechsten Klasse, schaffte es die türkische Mannschaft bei der WM in Japan und Südkorea bis ins Halbfinale – es gab eine große Party in meiner Kleinstadt, in der viele andere türkeistämmige Familien leben. 2010 war es endlich soweit: Mit dem Abitur in der Tasche reiste ich für einen Freiwilligendienst nach Südafrika. Im Johannesburger Soccer-City-Stadion konnte ich Lionel Messi beim Dribbeln zusehen und miterleben, wie beim Spiel Deutschland gegen Ghana die Boateng-Brüder aufeinandertrafen.
Und 2022? Werde ich die WM zum ersten Mal boykottieren. Weil ich Fußball liebe. Und weil mit der WM in Katar all die Entwicklungen einen neuen Höhepunkt erreichen, die meinen Fußball existenziell bedrohen.
Wie viele Menschen für die WM geopfert wurden, werden wir nie erfahren
Zu meinem Fußball gehören Gleichberechtigung, Fairness und Gemeinschaft. Als Kind habe ich mich nur an einem Ort stets als bedingungsloser Teil einer Gruppe gefühlt, ganz unabhängig von meiner Herkunft, meinem Aussehen und Namen: auf dem Fußballplatz.
Die WM in Katar aber findet in einem autokratisch geführten Land statt, in dem Homosexualität strafbar ist, in dem Frauen nicht die gleichen Rechte haben wie Männer, in dem Menschen ausgebeutet werden wie in kaum einem anderen Land. Immer wieder standen die unmenschlichen, sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen von Gastarbeitern im Fokus kritischer Berichterstattung. Die britische Zeitung Guardian schrieb 2021 von 6.500 Arbeitsmigranten, die seit der Vergabe der WM an Katar vor über zehn Jahren gestorben sind. Weitere Zahlen kursieren. Wie viele Menschen am Ende wirklich für diese WM geopfert wurden, das wissen wohl nicht einmal die katarischen Behörden. Und falls doch, wir werden es nie erfahren.
Das wären Gründe genug gewesen, um schon die Bewerbung des Wüstenstaates auszuschlagen. Aber nicht Vernunft, demokratische Werte oder die Liebe zum Fußball haben über den Austragungsort dieser WM entschieden, sondern: Geld. Katar hat diese WM gekauft. Und die Funktionäre, die die WM an Katar verkauften, haben davon finanziell profitiert. Zahlreiche Recherchen, Dokumentarfilme und Podcasts haben mittlerweile aufgearbeitet, dass das Emirat Personen im Exekutivkomitee des Weltfußballverbandes FIFA wohl großzügig bezahlt hat, um den Zuschlag für das Turnier zu erhalten.
Der Profifußball hat jeden Bezug zur Realität verloren
Die WM in Katar ist längst nicht das einzige Problem. Der Profifußball hat mit seinen horrenden Finanzströmen auch ohne sie schon jeden Bezug zur Realität gewöhnlicher Menschen verloren. Und die WM in Katar ist nicht die einzige, die gekauft wurde. Auch bei anderen Vergaben – wie die der WM 2006 an Deutschland – war das vermutlich der Fall.
In Katar verdichten sich Korruption und Kommerzialisierung des Fußballs in einem bisher ungekannten Maße. Die WM 2022 ist die logische und traurige Zuspitzung dessen, was schon seit Jahrzehnten falsch läuft. Wer diese WM schaut, macht diejenigen reicher und mächtiger, die die demokratische Kraft des Fußballs endgültig zerstören wollen; der macht sich auch mitschuldig am Sportswashing einer Autokratie, die Menschenrechte mit Füßen tritt. Wenn mich jemand in zehn Jahren nach der WM 2022 in Katar fragt, dann möchte ich antworten können, dass ich mich nicht an sie erinnere. Weil ich sie nicht geschaut habe.
Volkan Ağar ist Redakteur bei der „taz“ und schreibt dort normalerweise auch über Fußball. Er wird nicht über die Spiele dieser WM berichten (können)
Collagen: Renke Brandt