Am 4. Februar beginnen in Peking die Olympischen Winterspiele. Es sind die wohl umstrittensten Spiele seit Jahrzehnten: wegen der Pandemie, der staatlichen Repressionen in Hongkong, des Umgangs mit der Tennisspielerin Peng Shuai, die einem der höchsten chinesischen Politiker Vergewaltigung vorwarf – und dann lange verschwunden war. Vor allem aber wegen der Menschenrechtsverletzungen an Minderheiten wie Uiguren und Tibetern. Für Sportler/-innen und Offizielle eine delikate Lage.
fluter.de: Herr Gebauer, Ihnen soll mal jemand gesagt haben: „Sie werden China nach den Olympischen Spielen nicht wiedererkennen.“
Gunter Gebauer: Ja, das war 2008, vor den Olympischen Sommerspielen in Peking. Thomas Bach (der Präsident des IOC, 2008 war Bach noch Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds, Anm. d. Red.) hat diesen Satz zu mir gesagt – auf einer Podiumsdiskussion, an der wir beide teilgenommen haben. Er war der Meinung, die Spiele würden China im Hinblick auf Freiheitlichkeit und demokratische Werte beeinflussen. Tatsächlich war 2008 dann eine Art Wendepunkt in China, aber nicht zum Guten.
Wie meinen Sie das?
China hat durch Olympia damals viel Aufmerksamkeit erhalten: Etliche Touristen kamen und Tausende Journalisten, die sich nicht nur für Sport interessiert haben, sondern auch für die Menschenrechtssituation. Darauf hat die Regierung mit den klassischen Methoden einer Autokratie reagiert: Unterdrückung, Überwachung, Einsperren eigener Bürger und Ähnliches. Diese Entwicklung setzte sich nach Olympia fort. Mein Eindruck ist, dass die Staatsführung seit den Spielen 2008 noch mächtiger und autoritärer ist.
„Ein diplomatischer Boykott wird nichts bewirken, außer dass sich die chinesische Regierung an anderer Stelle revanchiert“
Trotzdem bekam Peking 2015 den Zuschlag für die Winterspiele. Wie wurde das entschieden?
Es gibt ein Bewerbergremium des IOC, das die Wettkampfstätten besichtigt und Punkte vergibt. Das trifft dann das IOC-Exekutivkomitee, das bestimmt, welcher Bewerber infrage kommt. Das IOC stellt hohe Anforderungen an die Gastgeberländer, nur eben nicht politisch. Da heißt es nur, dass man sich den Menschenrechten verpflichtet. Das tut offiziell jedes Land, das hat aber nichts zu bedeuten. Die Anforderungen an mögliche Gastgeber sind also vor allem materieller Art: Wer sich bewirbt, muss Bobbahnen, Skiflugschanzen oder Schlittenbahnen bauen, die den höchsten Standards entsprechen, dazu die Infrastruktur für den IOC. Das können sich nur bestimmte Bewerber leisten.
In traditionsreichen Wintersportorten gibt es diese Infrastruktur schon.
Ja, es gibt eine Menge bekannter Orte, die diese Herausforderungen erfüllen würden, in Deutschland, Österreich, Skandinavien oder Nordamerika. Dahin könnte man die Spiele geben. Aber das IOC will den Wintersport so weit wie möglich verbreiten, China ist da ein idealer Markt. Und es war ja auch der Meinung, 2008 mit Peking beste Erfahrungen gemacht zu haben.
Für diese Spiele gab es am Ende nur noch zwei Bewerber: Peking und die kasachische Stadt Almaty. Warum hat kein anderer Ort seine Bewerbung aufrecht erhalten?
Es gab einige Bewerber, die die Bedingungen hätten stemmen können. Aber das IOC ist in seinem Auftreten sehr fordernd, geradezu herrisch. Deshalb hat sich in demokratischen Bewerberländern meist die Bevölkerung gegen die Bestimmungen des IOC gestellt. In München oder St. Moritz fielen die Bewerbungen durch Volksentscheide, auch in Stockholm war das Publikum vermutlich eher befremdet von Forderungen wie einem Medienzentrum für 10.000 Journalisten oder Luxusunterkünften für die IOC-Funktionäre. Da hatte man das Gefühl: Wir bleiben auf den Kosten sitzen.
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Was verspricht sich China von den Spielen? Erwarten Sie eine große PR-Show?
Auf jeden Fall. Wir haben 2008 gesehen, dass China in der Lage ist, ein Großereignis für sich zu inszenieren. Auch auf sportlicher Ebene, China wird in einigen Disziplinen sehr erfolgreich sein. All das wirkt nach innen und stärkt die Staatsführung in der Bevölkerung. Das Event wird aber auch in anderen Teilen der Welt für Begeisterung und Bewunderung sorgen. Und in Ländern, die mit China eng verflochten oder von China finanziell abhängig sind, sicher auch für Stolz und Erleichterung, dass man gemeinsam mit diesem Partner in der Welt steht.
Wir sehen also PR für einen Staat, der die Menschenrechte missachtet, auf dem Rücken des Sports. Sollte man das nicht komplett boykottieren?
Nein, einen Boykott kann man den Sportlern nicht mehr zumuten. Für manche ist das der Höhepunkt in ihrem Sportlerleben, den sie jahrelang minutiös vorbereiten. Viele sind auch darauf angewiesen, bei Olympia sichtbar zu sein, die Bekanntheit zu steigern – für ihren Lebensunterhalt. Zum Teil verdienen Olympioniken ganz wenig Geld.
Aber in der Vergangenheit hat es solche Boykotte schon gegeben, auch von Sportlern.
Wenn Sie heute mit denen sprechen, hören Sie immer noch bittere Sätze. 1980 haben die USA und andere westliche Länder die Spiele in Moskau boykottiert. Die sind dann als großes pansowjetisches Fest inszeniert worden, mit Stadionshows und exzellentem Kulturprogramm. Das hatte für die UdSSR und ihre Verbündeten große Wirkung, für die boykottierenden Länder nicht. 1984 in Los Angeles blieben wiederum die UdSSR und die Ostblockstaaten fern, da inszenierten sich dann die USA als Supermacht. Man muss also sagen: Die großen Boykotte hatten politisch keinerlei positive Wirkung.
Wer boykottiert die Winterspiele von Peking?
Bislang haben u.a. die USA, Großbritannien, Japan, Kanada, Neuseeland und Australien diplomatische Boykotte angekündigt, aus der EU folgten Litauen, Belgien und Dänemark. In Deutschland wird es wohl keinen offiziellen Beschluss mehr geben. Außenministerin Annalena Baerbock, die für Sport zuständige Ministerin Nancy Faeser und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reisen zwar nicht nach Peking, nennen das aber nicht Boykott, sondern eine „persönliche Entscheidung“.
Diesmal haben die USA und einige andere Länder beschlossen, keine politischen Vertreter nach Peking zu schicken. Bringt das was?
Ich glaube, dieser diplomatische Boykott wird nichts bewirken, außer dass sich die chinesische Regierung an anderer Stelle irgendwie revanchiert. Für die eigene Hygiene können solche diplomatischen Boykotte aber gut sein: Man kann ja wenigstens zum Ausdruck bringen, dass man es nicht gut findet, dass die Spiele in Peking stattfinden.
Wäre es nicht auch eine Option, zwar zu den Spielen zu fahren, dann aber vor Ort Missstände anzuprangern?
Soweit ich weiß, wurde der Olympiamannschaft mittlerweile auch von Menschenrechtlern geraten, nichts zu sagen. Sich in China hinzustellen und politische Statements loszulassen hat keinen Zweck. Es kann sein, dass die Sportler drangsaliert werden, Probleme mit der Polizei und den Behörden bekommen.
Es hätte übrigens auch vor Ort keinen Effekt: Solche Statements kämen gar nicht zur Bevölkerung durch. Sie können sicher sein, dass überall chinesische Zensoren sitzen und aufpassen, dass niemand etwas Kritisches sagt oder zeigt.
„Das IOC kann bestimmte Dinge im Sport für politisch erklären – und das, was es selbst macht, für unpolitisch“
Wenn die Sportler hinfliegen, unterstützen sie indirekt Chinas PR. Bleiben sie fern, hat das für sie fatale Konsequenzen. Könnte man dieses Dilemma künftig vermeiden?
Ich sehe nur einen Weg: Der Widerstand gegen die Gebaren des IOC wird so groß, dass es ernsthafte Überlegungen anstellt, wie man den Vergabeprozess verändert. Die nächsten Winterspiele gehen nach Mailand, die Sommerspiele nach Paris, Los Angeles und Brisbane. Das stimmt mich verhalten optimistisch.
Sie glauben, die Kritik hat schon ein Umdenken angestoßen.
Da haben sich offenbar Leute Gedanken gemacht, wie man die Olympischen Spiele noch retten kann. Ich glaube, dem IOC steht das Wasser bis zum Hals. Die Öffentlichkeit ist bei diesen Themen empfindlicher geworden, auch die Fernsehanstalten lassen sich nicht mehr alles gefallen. Hinzu kommt: Finanziell wird das IOC von einigen wenigen Großsponsoren unterstützt. Darunter sind vor allem nordamerikanische Firmen wie Coca-Cola, die geraten in den USA in die Kritik. Ich nehme an, dass die auch Druck machen.
Der Präsident Thomas Bach verweist bei Kritik gern auf die politische Neutralität des IOC. Woher kommt eigentlich dieser Anspruch, Sport und Politik trennen zu können?
Das ist ein Machtinstrument von Sportinstitutionen wie der FIFA oder dem IOC. Die können bestimmte Dinge im Sport für politisch erklären – und das, was sie selber machen, für unpolitisch. Dabei sind sie selbst politische Konstruktionen: Im IOC sitzt für jedes Land ein Delegierter, der seine Interessen vertritt. Und Staaten, die die Olympischen Spiele ausrichten möchten, müssen die Anforderungen des IOC erfüllen. Wenn das nicht politisch ist …
Das Titelbild von Wolfgang Maria Weber/IMAGO zeigt einen Protest in München lebender Exil-Uiguren auf dem Marienplatz.