2015 wurde „Lügenpresse“ das „Unwort des Jahres“. Dabei war es nicht neu, sondern vielleicht das älteste, das jemals gekürt wurde. Auf jeden Fall aber war es das lauteste. „Lügenpresse“ wurde nicht nur gesagt und geschrieben, es wurde auch gerufen und gebrüllt, auf Demos in Dresden und Berlin: „LÜ-GEN-PRES-SE!“
Der Vorwurf, die Medien würden lügen und sich verschwören, ist so alt wie die mechanische Druckpresse. Journalisten sind Berufsbesserwisser und stellen unbequeme Fragen, sie gehen den Mächtigen auf die Nerven (und manchen Lesern auch). Da bleibt Kritik eben nicht aus.
Die Klassiker unter den Vorwürfen: die Presse lügt wie gedruckt oder ist gekauft
Begriffe wie „Lügenpresse“ aber dienten nie dazu, auf einzelne Fehler hinzuweisen. Sie sollten und sollen Journalisten pauschal abwerten. Schon im Jahr 1848, als eine Revolution durch Deutschland zog und Studenten auf die Barrikaden gingen, wetterte ein katholischer Politiker gegen die „jüdische Lügenpresse“, denn die sei daran schuld. Womit sich der Mann natürlich vor allem als Antisemit zu erkennen gab – und nicht etwa als jemand, dem an korrekter Berichterstattung gelegen ist. In konservativen Kreisen wurde der Begriff schnell populär.
Besonders beliebt war der Ausdruck „Lügenpresse“ im Ersten Weltkrieg. Die Presse unterlag zu dieser Zeit der Militärzensur: Alles, was kriegsrelevant sein konnte, musste dem Staat vorgelegt werden. Was ausländische Zeitungen berichteten, etwa über die Kriegsverbrechen deutscher Soldaten in Belgien, wurde von Journalisten und Schriftstellern als „Lügenpresse“ diffamiert.
Der Schriftsteller und Journalist Karl Kraus beleidigte seine Berufskollegen allerdings auch zu Friedenszeiten. 1902 brachte Kraus den Ausdruck „Journaille“ in Umlauf: ein französisches Wortspiel, das man am besten mit „Journalistenpack“ übersetzt. Bis heute wird der Ausdruck abwertend für Boulevardjournalisten gebraucht.
Der Begriff sollte nie auf einzelne Fehler hinweisen, er soll pauschal abwerten
In den 1930er-Jahren wurde dann der Ausdruck „Journaille“ von einem Mann verwendet, der dem jüdisch geborenen Karl Kraus nicht einmal die Hand gegeben hätte. Es war der spätere Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der über die „jüdische Journaille“ und die „Lügenpresse“ herzog. Die Nationalsozialisten hatten sich nicht nur einzelne Zeitungen für ihren Hass herausgepickt. Alles, was nicht ihrer Weltsicht entsprach, diffamierten sie als „Systempresse“. Nachdem die Presse in Deutschland gleichgeschaltet war, zählten sie vor allem die ausländische Berichterstattung dazu, beispielsweise über die Judenverfolgung in Deutschland oder die Kriegsverbrechen der Wehrmacht.
Die Karriere des Begriffs „Lügenpresse“ ging auch nach dem „Dritten Reich“ weiter. DDR-Propagandisten schimpften über die „kapitalistische Lügenpresse“, auch Linksautonome im Westen nutzten den Begriff. Unter Politikern in der Bundesrepublik nahm die Schmähkritik an der Presse zwar ab, und der Begriff Lügenpresse verschwand weitestgehend – aber die Diffamierung von Journalistinnen und Journalisten hörte deswegen längst nicht auf.
Seit Anfang der 2000er-Jahre sprachen dann vor allem Neonazis wieder von der „Lügenpresse“. Dass der Ausdruck so bekannt und zum Unwort des Jahres wurde, lag allerdings nicht an ihnen, sondern an den Pegida-Demonstrationen in Dresden ab Herbst 2014. Schon früh hatten sich einige radikale Fans von Dynamo Dresden unter die Teilnehmer gemischt. Obwohl deutlich in der Minderheit, initiierten sie die „Lügenpresse“-Sprechchöre mit – wie bei einer Stadion-Choreografie.
Titelbild: Jochen Eckel/SZ Photo/laif