Schwarzer Schnee liegt zwischen Plattenbauten auf 78 Grad nördlicher Breite und 13 Grad östlicher Länge, wo Lenin als Statue grüsst, ein Kohlekraftwerk Wolken aus Ruß in den Himmel bläst und in einer Turnhalle verkleidete, traurige Bergarbeiter für Kreuzfahrttouristen Kalinka tanzen. Barentsburg heißt diese Siedlung, ein Außenposten Russlands, aus dem keine Straße hinausführt. Seit dem letzten Brand hat die Grube ihre Produktion eingestellt, und eigentlich gibt es hier nichts mehr zu tun. Dass die Regierung im Kreml an der Enklave festhält, und 300 Bewohner dafür bezahlt werden, ohne Alkohol und sogar ohne Gewehre auszukommen (was angesichts der Eisbären problematisch ist), hat wichtige Gründe.
Mit Barentsburg demonstriert man Präsenz auf Spitzbergen. Die letzte russische Siedlung gilt als rußendes Signal, dass man das Svalbard- Archipel nicht aufgeben wird. Seit vielen Jahrzehnten schon gärt ein Streit zwischen Norwegen (das die Inseln verwaltet) und Russland (das 1920 den »Spitsbergen-Treaty« unterzeichnete und das Gebiet wirtschaftlich nutzen darf), und es geht nicht bloß um weites Land am Pol, das für Militärstrategen und Vogelkundler von Bedeutung ist. Sondern vor allem um die Barentssee, unter der Öl- und Gasvorkommen liegen könnten. Deshalb lässt die Russische Föderation gelegentlich Kriegsschiffe vor der Küste Spitzbergens kreuzen oder Überschallbomber Testschüsse abfeuern; eine russische Trawlerbesatzung, die zwei norwegische Fischereiinspektoren nach Kontrollen kidnappte, wurde von der Boulevardpresse zu Helden erklärt.
Dass das Eis der Pole als Folge des Klimawandels taut, hat Regionen für die Förderung von Rohstoffen interessant gemacht, die wegen der extremen Kälte bislang weder für Bohrungen noch für den Transport infrage kamen. Nun befahren Schiffe Routen, die einst latent lebensmüden Abenteurern vorbehalten waren, Regierungen lassen die einsamsten Häfen vertiefen und teure Forschungsschiffe bauen, und Ölkonzerne zahlen horrende Summen für Bohrlizenzen. In den optimistischsten Gutachten steht, dass 25 Prozent der weltweit nicht entdeckten Öl- und Kohlevorkommen in der Arktis liegen könnten. Aber über allem schwebt eine große Frage: Wem gehört das alles?
Wie groß das Konfliktpotenzial ist, belegt das Beispiel Kanada (dessen Regierung Boote für Polarpatrouillen im Wert von 3,1 Milliarden Dollar in Auftrag gab). Mit Russland streitet man um mehrere Seegebiete und einige Inseln, mit Dänemark um einen fast anderthalb Quadratkilometer großen Felsbrocken namens »Hans« und mit den USA und der Europäischen Union um die legendäre Nordwestpassage, die man als eine Art kanadisches Binnengewässer betrachtet. Was nach kanadischer Interpretation heißt, dass sich Schiffe anderer Nationen vor der Durchreise anmelden und eine Gebühr entrichten müssten. Bis heute haben kaum 100 Schiffe die Reise riskiert, aber bald, wenn das Eis geschmolzen ist, werden es Tausende sein, denn die Fahrzeit von Europa nach Asien halbiert sich. Schon entwerfen manche Beratungsagenturen Szenarien, in denen Soldaten Bohrplattformen und Claims bewachen und der Kalte Krieg in eine aufgewärmte Welt zurückkehrt.
Eine russische Expedition zeigte im August 2007 Flagge, ein Modell aus Acryl an einem Ständer aus Titan, etwa einen Meter hoch, das von einer Tauchkapsel aus in 4261 Metern Tiefe auf den gelblichen Schlamm der Tiefsee gesteckt wurde. Was rechtlich ungefähr so viel Sinn macht, als schraube man das eigene Türschild an einen Laternenmast und warte drauf, dass die Straße umbenannt wird – doch erneut geht es um die Kraft des Symbols. Die kleine Fahne steht für den russischen Anspruch auf insgesamt 1,2 Millionen Quadratkilometer Meeresboden, und vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Großmachtsadmirälen bekamen die Tiefseetaucher Applaus.
»Wir müssen ein wildes Wettrennen um die Arktis verhindern«, erklärte Dänemarks Außenminister Per Stig Møller, als er Amtskollegen wenige Monate später nach Grönland einlud. Nur die Ureinwohner, die Inuit, hatte man auf dieser Konferenz »vergessen«, die mit einer blumig formulierten »Erklärung von Ilulissat« endete und dem Versprechen, Streitfragen von den Vereinten Nationen klären zu lassen. Dazu präsentierte man eine Karte, in der die von Arktis- Anrainern beanspruchten Gebiete farbig markiert waren – was im Ergebnis an die Skizze einer Kindergartenmalgruppe erinnerte. Auf die »Festlandsockelgrenzkommission « der Vereinten Nationen (offizieller Name: »Commission on the Limits of the Continental Shelf«), die solche Fragen berät, kommt einiger Diskussionsstoff zu. 51 Länder haben Anträge auf Erweiterung ihrer Hoheitszonen eingereicht – ein Arbeitspensum, das sie vermutlich bis ins Jahr 2030 beschäftigen wird.
Völkerrechtlich ist die Lage klar: Bodenschätze auf Hoher See gehören dem »gemeinsamen Erbe der Menschheit «, doch innerhalb einer Grenze von 200 Seemeilen, der »Ausschließlichen Wirtschaftszone«, darf nur der Küstenstaat ausbeuten und forschen. In Artikel 76 des Seerechtsübereinkommens, ist allerdings eine Ausnahme festgelegt: Kann ein Staat beweisen, dass sich die eigene Landmasse unter Wasser als ein »erweiterter Festlandsockel « fortsetzt, darf er seinen Einflussbereich auf 350 Seemeilen ausdehnen – und in Einzelfällen sogar noch weiter. Wer sein Gebiet vergrößern will, benötigt also Kenntnisse über die unterseeischen Rücken. Den »Lomonossow«-Rücken zum Beispiel – auf den die Russen ihr Fähnchen platzierten – interpretiert man in Moskau als direkte Verbindung von Sibirien zum Nordpol, während die Kanadier fest an ein Anhängsel ihrer »Ellesmere«-Insel glauben und die Dänen überzeugt sind, dass sich Grönland auf einer Kruste fortsetzt. Alle haben gewissermaßen »Rücken«, alle im selben Gebiet, und alle besitzen geologische Gutachten, die ihre Thesen belegen sollen.
21 Vertreter gehören zur »Festlandsockelgrenzkommission «, nach Proporz auf Kontinente verteilt; mehrmals im Jahr tagt das Gremium abgeschottet in einem fensterlosen Raum im Hochhaus der Vereinten Nationen, 760 United Nations Plaza, New York. Kritiker erinnert das konspirative Treiben an Zeiten, als Kolonialmächte die Welt aufteilten. »Die Öffentlichkeit hat kaum Zutritt«, moniert der international renommierte Geophysiker Karl Hinz, der als letzter Deutscher der Vertretung bis 2002 angehörte. Von den Ergebnissen werden nur dünne Zusammenfassungen publiziert, die selbst für Experten nicht immer nachvollziehbar sind – obwohl es in manchen Fällen um Rohstoffvorkommen im Wert von vielen Milliarden Dollar gehen kann. Wie die Kommission zu ihren Entscheidungen kommt? Was überhaupt in den Unterlagen steht? »Streng geheim «, lautet stets die Antwort.
Die USA stehen kurz davor, ins Monopoly am Nordpol einzusteigen
Wer Hinz, 75, zuhört, einem Professor mit donnernder Bassstimme, der seit seiner Pensionierung ein Büro in Hannover unterhält und unter anderem die Regierungen von Ghana, Fiji oder Argentinien berät, hat bald den Eindruck, dass sich Diskussionen der Kommission nicht immer nur um wissenschaftliche Aspekte drehen. Neben echten Experten gehören ihr auch echte Bürokraten an, die von ihren Regierungen auf einen Posten verschoben wurden. »Wissen Sie was? Der Einzige, der in der letzten Runde wirklich neutral war«, sagt Hinz, »das war ich!« In den Arbeitsgruppen soll es um Themen wie seismische Profile gehen, um Sedimentschichten, die Struktur des Ozeanbodens und Tiefendaten – doch politische Landkarten spielen dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. Am Ende entscheidet die Kommission mit Zweidrittelmehrheit und spricht eine Empfehlung aus, die von den Staaten umgesetzt wird.
Australien zum Beispiel hat vor einem Jahr 2,5 Millionen Quadratkilometer Meeresboden dazubekommen, riesige Gebiete, auch an der Nordwestküste, wo man ein Erdöllager vermutet. Das Tempo, mit der die Entscheidung durchgewunken wurde, trotz eines Mangels an nachhaltigen Beweisen, regt Geologen auf. Hinz, der Niedersachse, spricht von »einer bedrohlichen Entwicklung«. Er ließ seinerzeit den Antrag der Russen auf Anerkennung von Polargebieten am »Lomonossow-Rücken« abblitzen, weil ihm die Qualität der Daten nicht ausreichte und die Antragssteller nicht verraten wollten, ob die Untersuchungen von einem U-Boot stammten. Sein Nachfolger für den Sitz in der Kommission – wie Hinz ein sachlich korrekter Fachmann der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) – fiel später in mehreren Wahlgängen durch.
Fachleute rechnen damit, dass die USA, die das Seerechtü̈bereinkommen bislang ablehnten, dieses nun während der Präsidentschaft von Barack Obama ratifizieren werden, und ebenfalls Anträge an die Festlandsockelgrenzkommission stellen – was einen weiteren Spieler ins Monopoly um die Arktis einsteigen lässt. Ob sich die Diskussionen und Bemühungen wirklich für alle Gebiete lohnen, halten Wissenschaftler indes für fragü̈rdig. Hermann-Rudolf Kudraß von der BGR beispielsweise hält es wegen der dünnen Sedimentschicht in den Meeresbecken rund um den Pol für unwahrscheinlich, dass Erdöl oder Erdgas in einer Menge zu finden sind, die eine Förderung wirtschaftlich sinnvoll macht. Und Spitzbergen? »Da ist, Stand heute, nix zu holen«, urteilt Hinz. Als zweifelsfrei ergiebig gelten Gebiete am Rande Sibiriens, zum Beispiel im Delta der Lena, die in die »Ausschließliche Wirtschaftszone « Russlands gehören, auch ohne »Rückendiagnosen«.
Was die Förderung des Öls angeht, sind andere Probleme ungeklärt: Mag die Arktis während der Sommer eines nahen Tages eisfrei sein, so friert das Eis in den Wintermonaten wieder meterhoch und bedroht jede Pipeline oder macht auch die Arbeit auf Ölplattformen unmöglich. Wissenschaftler fantasieren über ferngesteuerte, unbemannte Kapseln am Meeresboden oder äußerst mobile Bohrinseln – deren Entwicklung astronomische Summen verschlingt. Im Falle einer Ölhavarie, so warnen zudem Umweltschützer, droht eine Katastrophe, denn es dürfte unmöglich sein, den Teppich zu beseitigen. Obendrein enthält das Meereis Poren, in denen sich Öl festsetzt, und es fehlen in diesen Gewässern viele jener Mikroorganismen, die Öl abbauen können. Jeder Unfall könnte ganze Tierpopulationen ausrotten – und den Inuit ihre Lebensgrundlage entziehen. So anders die klimatischen Umstände dieses Wettlaufs um Rohstoffe also sind, eines ist wieder gleich: Er geht vor allem auf Kosten der Natur.
Stefan Krücken (34) war schon einige Male in der eisigen Kälte des Polarmeers und würde nun gern mal eine Reportage aus wärmeren Gefilden machen.