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Lichtgestalt

In Belarus werden Regimekritiker gnadenlos verfolgt. Ljuba protestiert dennoch

Belarus

An einem grauen Tag im Frühjahr geht Ljuba, 37, mit ihrer neunjährigen Tochter in der belarussischen Hauptstadt Minsk auf die Straße. Was sie vorhat, klingt harmlos: Ljuba will ihr Handylicht aufleuchten lassen, um gegen die repressive Situation in ihrem Land zu demonstrieren. Im August vergangenen Jahres hat sich Präsident Alexander Lukaschenko, der seit 1994 regiert, zum Wahlsieger erklärt. Sowohl internationale Organisationen als auch die Opposition werfen ihm vor, diese Wahl manipuliert zu haben. Seitdem gab es viele Proteste. Lukaschenko wiederum lässt seine Sicherheitskräfte immer brutaler gegen Andersdenkende vorgehen.

Nach Sonnenuntergang erhellen etwa 50 Handylichter die hereinbrechende Nacht. Mit solchen Aktionen vergewissern sich Oppositionelle gegenseitig ihrer Solidarität. „Um zu wissen, dass man nicht allein ist, um nicht durchzudrehen“, wird Ljuba später erzählen. Doch an diesem Abend hält plötzlich ein blauer Bus an der Kreuzung. Uniformierte springen heraus, schnappen sich die ersten Menschen, prügeln mit Schlagstöcken auf sie ein. Ljuba nimmt ihre Tochter und rennt. Sie hastet in eine offene Haustür, zieht sie hinter sich zu. Ihre Tochter hält sich an ihr fest. Ein Polizist rüttelt an der Tür. Sie gibt nicht nach. Ljuba und ihre Tochter haben Glück.

Ljuba heißt eigentlich anders, ihren Namen hat sie geändert, damit die Behörden sie nicht identifizieren können. Als sie im April 2021 per Zoom von solchen Erlebnissen berichtet, wirkt sie erschöpft: Eine Frau mit langen braunen Haaren und traurigen Augen erzählt davon, dass ein Mitstreiter von ihr verhaftet wurde, weil er eine kleine weiß-rot-weiße Schleife in sein Fenster gehängt hatte – die Farben der Opposition.

Die Regierung Belarus’ sei noch repressiver als in Zeiten der Sowjetunion, meinen manche

Belarus oder Weißrussland, wie es lange genannt wurde, hat 9,4 Millionen Einwohner. Als ehemalige Teilrepublik der Sowjetunion ist es wirtschaftlich vor allem nach Osten orientiert. In der sowjetischen Folklore galten die Weißrussen immer als besonders reinlich, aber eher passiv, im Gegensatz etwa zu den aufsässigen Ukrainern. Wer vor dem August 2020 das Land bereiste, fand zumeist sehr gut gefegte breite Straßen und stille Menschen vor.

Doch im Herbst und Winter 2020 erreichen Bilder von Demonstrationen die Welt, friedliche Massenproteste Zehntausender, die weiß-rot-weiße Fahnen schwenken und demokratische Reformen fordern. Schon diese Proteste werden von brutaler Polizeigewalt überschattet, von Verhaftungen und Todesfällen. Aber immerhin kämpfen die Menschen noch. Mittlerweile aber, so beschreibt es der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch auf dem Medienportal budzma.by, gebe es „keine Nischen mehr“, nicht einmal aufsässige Theaterstücke oder Lesungen regimekritischer Texte in Kellern. Sogar in der Sowjetunion, zu der Belarus bis zur Unabhängigkeit 1991 gehörte, hätten diese Freiräume existiert. Was in Belarus geschehe, sei der Versuch, „alles zu verbieten“ – vor allem die Meinungen Andersdenkender. Seit Spätsommer vergangenen Jahres hat Ljuba an unzähligen Protesten teilgenommen. Vor allem die Bilder von Menschenketten, die nur von Frauen gebildet wurden, gingen um die Welt. Weiß gekleidet – als Zeichen des Friedens – standen sie den dunkel uniformierten Polizisten und Soldaten gegenüber, immer in Gefahr, geschlagen und verhaftet zu werden.

Aber der Druck der Behörden hat sich in den vergangenen Monaten stetig erhöht. Inzwischen trifft sich Ljuba selbst in ihrem eigenen Hinterhof nur kurz mit Mitstreiterinnen; größere Proteste gebe es aktuell gar nicht mehr. Eine seltene Ausnahme sei zuletzt ein Protestzug von etwa 30 zumeist jungen Menschen gewesen. Ljuba schickt ein Video. Verglichen mit dem, was noch vor Monaten möglich schien, wirkt diese Demo wie ein letztes verzweifeltes Aufbäumen.

Auch Julian musste aus Belarus fliehen – weil er spontan an einer Demo teilnahm. Hier lest ihr seine Geschichte

Viele von Ljubas damaligen Mitstreiterinnen sind ins Ausland geflohen. Aus Angst davor, im Gefängnis zu landen oder eine Geldstrafe zu bekommen, die einem die Zukunft nimmt. Die belarussische Menschenrechtsorganisation Viasna gibt die Zahl der politischen Gefangenen Mitte Mai mit 404 an. „Viele werden weggesperrt, andere halten es nicht mehr aus und wandern aus, dazu kommt Corona.“ Auch Ljuba und ihre Familie haben eine Infektion durchlebt, zum Teil mit schweren Verläufen. „Da denkst du dann erst einmal nicht an Proteste.“ Die Behörden leugnen die Gefahren der Pandemie. Präsident Lukaschenko hat mal empfohlen, gegen das Virus Wodka zu trinken und Traktor zu fahren.

Wie viele Menschen in Belarus an Corona erkranken, ist ebenso schwer zu benennen wie die Prozentzahl der Anhänger von Lukaschenko. Den gegenwärtig besten Eindruck vermittelt eine aktuelle Studie des „Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien“ (ZOiS), die bilanziert, dass etwa 30 Prozent der Menschen in Belarus weiter den Präsidenten unterstützen.

Schon vor den Protesten kannte das Land nur marginale Formen der Pressefreiheit. Mittlerweile ist es in der Rangliste der Reporter ohne Grenzen auf Platz 158 von 180 abgerutscht. Kein anderer Staat in Europa rangiert so weit hinten. Ende Mai wurde sogar ein Verkehrsflugzeug, das von Athen nach Litauen flog, von einem Militärjet gezwungen, in Minsk zu landen, damit der regierungskritische Blogger Roman Protasewitsch festgenommen werden konnte, der an Bord war.

Auch für Journalisten aus dem Ausland werden Recherchen in Belarus immer schwieriger. Auf Presseanfragen aus dem Westen antworten die Behörden nicht mehr, es ist also unmöglich, die andere Seite der Geschichte zu hören. Gleichzeitig trauen sich Menschen kaum noch, mit den Medien zu reden. Die erste Protagonistin, um die es in diesem Text gehen sollte, wurde am Morgen vor dem Interview verhaftet. Ihr Aufenthaltsort ist ungewiss. Daher läuft auch die Kommunikation mit Ljuba nur verschlüsselt. Wenn sie das Haus verlässt, nimmt sie ihr Smartphone oft nicht mit, damit es der Polizei nicht in die Hände fällt – und mit ihm all ihre Kontakte.

Ljuba’s Sohn wurde zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt – wegen weniger als einem Gramm Spice

Trotzdem hat sich Ljuba entschieden, weiterzukämpfen – auch wenn ihr dramatische Konsequenzen drohen. Doch davon lässt sie sich nicht beirren. Neben der Organisation von Protesten verfasst sie mit Mitstreiterinnen Protestnoten an die EU oder die UN. Vor Kurzem ging im Namen von Folteropfern beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe eine Strafanzeige gegen Lukaschenko ein. Ljuba ist noch jung, sie könnte weg, zumindest theoretisch: nach Litauen oder Polen etwa, die wichtigsten Exilorte belarussischer Oppositioneller. Der Grund, warum sie bleibt, ist nicht nur der Kampf gegen das Regime, sondern auch das Schicksal ihres Sohnes, der seit vier Jahren im Gefängnis sitzt. Er ist einer der in Belarus so genannten „Kinder 328“, also ein Minderjähriger oder junger Erwachsener, der nach dem Paragrafen 328 verurteilt wurde, womit Drogendelikte geahndet werden. Weil er mit weniger als einem Gramm Spice, ein synthetisches Cannabinoid, erwischt wurde, bekam er zehn Jahre Lagerhaft.

Kinder zu haben bedeutet für Ljuba, dass sie ein noch größeres Risiko eingeht, da sie nicht nur für sich selbst verantwortlich ist. Wenn sie festgenommen wird, könnte sie das Sorgerecht für ihre Tochter verlieren. „Das Regime weiß, dass es die Menschen am härtesten trifft, wenn es ihnen ihre Kinder wegnimmt.“ Neulich wurde sie von einer Lehrerin ihrer Tochter aufgefordert, Kritik an Lukaschenko aus ihren Social-Media-Kanälen zu löschen – sonst werde ihre Tochter „weggebracht“.

Sie fühle sich häufig ausgelaugt und leer, gerade in letzter Zeit, da es so aussehe, als würde Lukaschenko gewinnen. „Nachbarn sagen oft, dass ich Ruhe geben soll, sonst wäre ich auch bald dran“, sagt Ljuba. „Aber wenn ich jetzt aufgebe, waren all die schlaflosen Nächte und die ganze Angst umsonst.“ Manchmal, in ihren dunkelsten Momenten, wolle sie schon aufgeben und ausreisen. Aber dann denke sie an ihren Sohn – und es geht weiter. „Dieses Regime nimmt uns alles“, sagt Ljuba, „deshalb werden wir kämpfen.“

Illustration: Studio Pong

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