Am 9. August 2020 trifft sich Julian in einem Park in der belarussischen Hauptstadt Minsk mit Freunden. Sie hängen ab, hören Musik, es könnte ein ganz gewöhnlicher Sonntag werden. Bis einer der Freunde vorschlägt: „Lasst uns doch zur Demo gehen.“
Wie brutal dieser Sonntag noch werden sollte, ahnen die Jugendlichen – Julian ist 17, seine Freunde etwa genauso alt – nicht. An diesem Tag haben die Belarussen ihren Präsidenten gewählt. Aber keinen neuen, sondern jenen, der schon im Amt ist: Alexander Lukaschenko, der das Land seit 1994 autoritär regiert. Seine Wiederwahl ist umstritten, die Opposition wirft ihm massive Wahlfälschungen vor. Der darauf folgende Protestzug verstärkt die landesweiten Massenproteste gegen Lukaschenko, die heftigsten seit der Unabhängigkeit des Landes 1991.
„Die haben uns übel zugerichtet, ich habe geblutet und hatte Schürfwunden. Ich hab gedacht: ‚Das war’s‘“
„Wir haben uns nicht viel gedacht, als wir zur Demo gegangen sind“, sagt Julian. Seine Geschichte erzählt er aus seinem jetzigen Exil in Polen. Über Zoom ist ein junger Mann mit scharfen Gesichtszügen und schüchternem Blick zu sehen. Er antwortet oft knapp.
An diesem 9. August laufen die vier Freunde zum Minsker Hauptbahnhof. Sie sind überrascht, wie viele Menschen ihnen begegnen, erzählt Julian. Die ganze Stadt scheint aufgekratzt. Viele Menschen schwenken die weiß-rot-weiße Flagge der Opposition. Unweit des Bahnhofs hält plötzlich ein Truppentransporter der Polizei, Beamte springen auf die Straße. Julian sagt: „Die haben sofort auf uns eingeprügelt.“
Fäuste und Schlagstöcke prasseln auf die Jugendlichen nieder. „Der Oberpolizist hat gebrüllt: ‚Wer hat den Pflasterstein geworfen?‘“ Doch weder Julian noch seine Begleiter hätten etwas damit zu tun gehabt. „Die haben uns übel zugerichtet, ich habe geblutet und hatte Schürfwunden“, sagt Julian. Dann hätten die Beamten ihn und seine Freunde in den Transporter gezerrt. „Ich hab gedacht: ‚Das war’s.‘“ An der nächsten Straßenecke hält der Transporter aber plötzlich, einer der Polizisten befiehlt allen abzuhauen.
Blutend und verletzt taumeln die Jugendlichen durch Minsk, an einer Kreuzung geraten sie in eine Kontrolle. Polizisten fragen sie, ob sie von den „illegalen Protesten“ kommen. Sie versuchen sich rauszureden, „aber das funktionierte natürlich nicht, so wie wir aussahen“. Wieder werden die Jugendlichen festgesetzt. Diesmal werden sie nicht geschlagen, müssen aber auf ihren Knien und mit den Händen hinter dem Kopf ausharren. „Fünf Stunden mussten wir so verbringen. Als Versorgung gab es nur Wasser, nach mehrmaliger Nachfrage.“ Anschließend werden Julian und seine Freunde von der Polizei abtransportiert. Weder erfahren sie, wohin sie gebracht werden, noch wissen sie, was ihnen vorgeworfen wird.
Ausländische Medien nennen Belarus gerne „Europas letzte Diktatur“…
Offiziell hat Amtsinhaber Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen am 9. August über 80 Prozent aller Stimmen auf sich vereinigen können – die stärkste Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja nur 9,9 Prozent.
Warum sagen jetzt alle Belarus – und nicht „Weißrussland“? Durch die Proteste setzt sich die Selbstbezeichnung Belarus langsam durch. Der Begriff „Weißrussland“ stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der deutsche Soldaten das belarussische Gebiet als zum russischen Territorium gehörend wahrnahmen. Viele Belaruss*innen empfinden den Namen deshalb als Gleichsetzung mit Russland – die historisch nicht korrekt ist und die Unabhängigkeit des Volkes untergräbt.
Doch der Präsident habe das Wahlergebnis gefälscht – davon sind zumindest jene Belarussen überzeugt, die seit Monaten für einen demokratischen Neuanfang demonstrieren. Analysen sowie Nachwahlbefragungen, etwa der Menschenrechtsorganisation „Viasna“ oder des „Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien“ (ZOiS), deuten darauf hin, dass tatsächlich im großen Stil manipuliert worden ist. Auch die EU wirft Lukaschenko Wahlbetrug und Unterdrückung der Demokratiebewegung vor und hat Sanktionen gegen ihn verhängt: Er darf nicht mehr in die EU einreisen, und mögliche Konten in der EU wurden eingefroren. Die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) sieht gar „überwältigende Beweise“ für Wahlfälschungen.
Auch die „vierte Gewalt“, also eine unabhängige Presse, hat Lukaschenko kaum zu fürchten: Im Ranking der Pressefreiheit liegt Belarus weltweit auf Platz 153, kein Staat in Europa schneidet so schlecht ab (es sei denn, man zählt die Türkei mit – die liegt auf Platz 154). „Europas letzte Diktatur“, so liest man immer wieder, wenn es um Belarus geht.
… die Regierung Lukaschenkos bestreitet dagegen jede Unrechtmäßigkeit
Trotz solcher Hin- und Beweise bringt ein Konflikt, wie er sich in Belarus ereignet, oft eine unklare Faktenlage mit sich. Nicht nur das Wahlergebnis, auch die Anzahl getöteter oder festgesetzter Demonstranten kann nur geschätzt werden. Aber: Sie vermitteln eine Idee davon, was sich im Land abspielt. So zählt das Onlineportal naviny.mediaallein für den August 1.100 Menschen, die bei oder nach Demonstrationen zum Teil schwerste Verletzungen davongetragen haben. Das Portal präsentiert auch drastische Fotos angeschossener oder verstümmelter Menschen. „Viasna“ zählt allein für den 8. November landesweit mehr als 1.000 Festnahmen. Die OSZE berichtet von systematischer Folter. Zahlreiche Aufnahmen belegen, dass die Polizei scharf schießt. Die Regierung um Lukaschenko bestreitet dagegen Unrechtmäßigkeiten. Sie rechtfertigt das Vorgehen der Polizei damit, dass die Sicherheit des Landes durch die angeblich vom westlichen Ausland gesteuerten Proteste in Gefahr sei.
Auf offizielle Anfragen von Journalisten antworten die belarussischen Behörden seit Ende August nicht mehr. So bleibt nur, möglichst viele Geschichten zusammenzutragen und miteinander abzugleichen. Julians Tage in Haft ähneln jedenfalls zahlreichen anderen Beschreibungen, etwa auch der Geschichte des russischen Journalisten Nikita Telishenko, der einen Tag nach Julian verhaftet worden war und hinter denselben Gefängnismauern gesessen hat. Er schreibt von schweren Misshandlungen festgenommener Demonstranten.
„Ich habe oft Schreie gehört“, berichtet Julian von seinen Erfahrungen hinter Gittern. „Es gab auch zu wenig zu essen. Ich hatte ständig Hunger.“ Insgesamt hätte er aber noch Glück gehabt, da er selbst zwar geschlagen, aber nicht „verunstaltet“ worden sei. Ein offizieller Haftgrund wurde ihm in der gesamten Zeit nicht mitgeteilt. Vier Tage verbrachte er in verschiedenen Zellen.
Einen anderen Blick liefert Sviatlana Shelepen, nämlich den von der anderen Seite der Mauer. Die Menschenrechtsaktivistin ist eine aktive Teilnehmerin der Proteste und half Julians Mutter nach dessen Festnahme. „Wir haben ihn vier Tage lang gesucht“, erzählt Sviatlana per Telefon aus Minsk. Es sei vor allem die Ungewissheit, die vielen Angehörigen den Rest gegeben habe. „Die Polizei hat einfach keine Auskünfte gegeben“, erzählt Sviatlana. Mit einem so unmenschlichen Vorgehen demaskiere sich das Regime selbst, findet sie.
„Wenn du von so viel Unmenschlichkeit hörst, bist du irgendwann am Ende“
Als Julian schließlich entlassen wird, warten Aktivisten auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis. Sie geben ihm ein Telefon, er ruft seine Mutter und die wiederum Sviatlana an. Gemeinsam holen sie ihn ab. Aber die Erleichterung währt nicht lange: Julian bekommt eine Vorladung, ihm soll wegen seiner „Teilnahme an einer illegalen Demonstration“ der Prozess gemacht werden. Erfahrungen anderer Demonstranten zeigen, dass „zwischen 15 Tagen Arrest und einer längeren Haftstrafe“ vieles denkbar ist, berichtet Sviatlana. Am Tag vor Julians Prozess fährt sie mit ihm an die belarussisch-polnische Grenze. Sviatlana hat ein Arbeitsvisum für Polen, sie gibt Julian als ihren Mitarbeiter aus.
Julians Mutter bleibt in Minsk, und auch Sviatlana selbst bleibt nur einige Wochen in Warschau. „Ich habe mich etwas erholt“, sagt sie. Seit Beginn der Unruhen hat sie für „Viasna“ und andere Organisationen Geschichten von Demonstranten protokolliert. „Wenn du von so viel Unmenschlichkeit hörst, bist du irgendwann am Ende.“ Trotzdem fährt sie bald zurück nach Minsk. „Wir müssen weitermachen, bis wir uns die Demokratie erkämpft haben.“
Vor allem in Warschau hat sich – verstärkt seit August – eine Gemeinschaft von Exil-Belarussen gefunden, die nicht zurückkönnen oder -wollen. So lebt dort auch der junge Kopf hinter dem Telegram-Kanal Nexta, über den sich viele Demonstranten in Belarus informieren.
„Ich will hier neu anfangen“, sagt Julian über Polen. „Auch wenn es bitter ist, von meinen Freunden und meiner Familie getrennt zu sein.“ In Belarus hatte er die Schule abgeschlossen, aber eine Ausbildung zum Werbekaufmann abgebrochen. In Polen macht er zunächst eine Kur, erholt sich psychisch und körperlich von den Strapazen.
Bei einem Telefonat einige Wochen nach seiner Ankunft ist Julian mittlerweile 18 geworden. Er hat ein Stipendium für einen Studienplatz im polnischen Lublin bekommen. Dort könne er zuerst allgemeine Kurse besuchen und sich später für ein Fach entscheiden.
Die Proteste in seiner Heimat Belarus gehen derweil weiter.