Für ein Drehbuch wäre das Leben von Vitali Shkliarov zu kitschig. Nach der Tschernobyl-Katastrophe 1986 kam er als sogenanntes Gastkind aus dem heutigen Belarus nach Deutschland, wo er später Linguistik studierte und seinen Doktor in Sozial- und Politikwissenschaft machen sollte. Nebenbei managte Shkliarov den russischen Rapstar Seryoga, legte für Wladimir Kaminers „Russendisko“ auf, half 2012 bei Barack Obamas Wiederwahlkampagne, übernahm 2016 die Wahlkampfleitung für den US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders und beriet Kandidaten der russischen Opposition bei ihren Wahlkämpfen.
Bis vor kurzem lehrte der 44-jährige Shkliarov noch als Fellow in Harvard. Seit Ende Juli sitzt er aber in einem Untersuchungsgefängnis, ohne Anklage, mitten in der belarussischen Hauptstadt Minsk, isoliert von der Außenwelt. Shkliarov drohe eine Haftstrafe von drei Jahren, sagt sein Anwalt. Im schlimmsten Fall kann ihm sogar die „Vorbereitung einer terroristischen Aktivität“ vorgeworfen werden, worauf in Belarus die Todesstrafe steht.
Währenddessen toben draußen Proteste historischen Ausmaßes. Die Wahl am 9. August hat der amtierende Präsident Alexander Lukaschenko mit großer Mehrheit gewonnen, zumindest laut Angaben des Regimes. Viele Menschen und die Opposition sind hingegen sicher, dass Lukaschenko der Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja deutlich unterlegen war; auch die EU-Staaten erkennen das offizielle Wahlergebnis nicht an. Tichanowskaja verließ nach der Wahl das Land und macht aus Litauen Druck auf Lukaschenko – der seit 26 Jahren im Amt ist, aber betont, die Macht vorerst nicht abgeben zu wollen.
„Als hätte mich eine Zeitmaschine direkt in den Gulag verfrachtet“
Hunderttausende gehen deshalb auf die Straßen. Inzwischen streiken die Arbeiter in den staatlichen Fabriken und selbst das Staatsfernsehen zeigt die offene Ablehnung gegen den Machthaber. Weil die Polizei zu Beginn der Proteste mit massiver Gewalt reagierte, sind bislang drei Demonstranten gestorben, Tausende wurden inhaftiert. Aber die Protestierenden machen weiter, fordern Neuwahlen und die Freilassung politischer Gefangener wie Vitali Shkliarov.
Warum sagen jetzt alle Belarus – und nicht „Weißrussland“? Durch die Proteste setzt sich die Selbstbezeichnung Belarus langsam durch. Der Begriff „Weißrussland“ stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der deutsche Soldaten das belarussische Gebiet als zum russischen Territorium gehörend wahrnahmen. Viele Belaruss*innen empfinden den Namen deshalb als Gleichsetzung mit Russland – die historisch nicht korrekt ist und die Unabhängigkeit des Volkes untergräbt.
Der habe vor seiner Verhaftung nur seinen Sohn zu den Großeltern in seine Heimatstadt Gomel bringen wollen, bloggt sein Wegbegleiter Wladimir Kaminer. „Er ging in kurzer Hose und Flip-Flops zum Markt, um eine Wassermelone zu kaufen, dort wurde er von den Sicherheitsleuten verhaftet und nach Minsk in den Knast verschleppt. Die Eltern erfuhren erst am Abend, wo er sich befand.“
Für Lukaschenko könnte sich Shkliarov als wertvoller Gefangener erweisen: Seine Frau ist US-Diplomatin. Er selbst und seine Anwälte glauben, dass die Inhaftierung die Rache Lukaschenkos für seine politischen Artikel sei. Dass er für die Opposition gearbeitet habe, wie ihm die Behörden vorwerfen, verneint Shkliarov.
Er ist einer von bislang rund 7.000 Menschen, die während der Proteste festgenommen wurden. Die Gefängnisse sind so überfüllt, dass Insassen auf Innenhöfen von Polizeistationen und in Turnhallen untergebracht werden. Belarussische Menschenrechtler nennen die überfüllten Gefängnisse „Konzentrationslager“. Der stellvertretende Innenminister Alexander Barsukow hat bereits öffentlich bestritten, dass politische Gefangene missbraucht würden. Anwohner berichten aber von Schreien aus den Gefängnissen, Videos und Fotos zeigen, wie Insassen mit Prügel und Essensentzug gezüchtigt werden.
„Auf dem Boden, an den Wänden, an der Decke, das Blut war überall“, sagte Claudio Locatelli der „Zeit“. Locatelli war während der Proteste am Wahlsonntag eingesperrt worden. Während seiner 60 Stunden in Haft sei auch das Staatsfernsehen gekommen, damit die Insassen vor der Kamera bestätigen konnten, dass die Proteste von außen gesteuert seien. Essen bekamen sie nicht. Trotzdem sei er als Ausländer noch bevorzugt behandelt worden, sagt Locatelli. „Die Belarussen hatten am meisten zu leiden.“
Erreicht die Demokratie Belarus nun doch noch?
„Sie versuchen, mich zu brechen“, schreibt Shkliarov in einem Brief an seinen Anwalt. „Mit ganzer Kraft.“ Den ganzen Tag laufe sowjetische Propagandamusik, Kontakt zur Außenwelt sei untersagt, außer zu seinem Anwalt. Der erzählt, dass Shkliarov immer wieder in andere Zellen verlegt worden sei, darunter ein Keller voller Schimmel, Kakerlaken und rauchender Mitinsassen und das „Becher“, ein Raum von einem Quadratmeter Größe, in dem Shkliarov stundenlang ohne Essen, Trinken oder eine Sitzgelegenheit ausgeharrt habe. „Es scheint“, schreibt Shkliarov in seinem Brief, „als hätte irgendeine defekte Zeitmaschine mich direkt in den Gulag verfrachtet.“
Um seine Freilassung kämpft nun neben seinem Anwalt auch eine Initiative. Sie appelliert an die Politik, sich für den Mann einzusetzen, der so lange in Deutschland gelebt hat. Der auszog, um die Demokratie in Berlin kennenzulernen, in den USA zu unterstützen und nach Russland zu bringen. Die Demokratie, die ganz ohne Vitali Shkliarovs Zutun nun auch in seiner Heimat Belarus Einzug halten könnte.
Titelbild: Misha Friedman/Getty Images