Im Herbst 2014 hätte Joshua Wong seinen 18. Geburtstag feiern können. Aber statt eine Party zu schmeißen, organisierte er einen Protest mit, zu dem Zehntausende auf die Straßen kamen. Mit Schlachtrufen und aufgespannten Regenschirmen, die bald symbolisch für den Schutz vor Einwirkungen von oben stehen sollten, wehrten sie sich gegen die schleichende Abschaffung der ohnehin wackeligen Demokratie in Hongkong. Über Wochen machte das „Umbrella-Movement“ weltweit Schlagzeilen.
Vor allem junge Hongkonger sehen ihre Zukunft bedroht. Seit 1997 ist die Halbinsel an der chinesischen Südküste nach rund 150 Jahren unter britischer Herrschaft als Sonderverwaltungszone wieder ein Teil Chinas. Zwar sichert ein Übergabevertrag „weitgehende Autonomie“ für Hongkong über 50 Jahre zu, doch trotzdem beschnitt die Pekinger Regierung in den letzten Jahren das Recht auf Versammlungsfreiheit. Auch die Protestler, die vor allem freie Wahlen mit ausschließlich selbst bestimmten Kandidierenden und Abgeordneten forderten, konnten daran wenig ändern.
Stattdessen wurden Joshua Wong und weitere Aktivisten zu Gefängnis- und Bewährungsstrafen verurteilt. Von den sechs Monaten, die Wong bekommen hatte, saß er knapp die Hälfte ab und kam dann gegen Kaution frei, um in Berufung gehen zu können. Im Januar wurde er erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wegen „Auflehnung gegen die Staatsgewalt“.
Nachdem Chinas Staatschef Xi Jinping seine Machtfülle noch erweitert hat und diese auch in der Verfassung festschreiben ließ, sind die Zukunftsaussichten für die Demokratiebewegung in Hongkong nicht gerade besser geworden.
fluter.de: Herr Wong, sind Sie durch die Erfahrungen der letzten Jahre zahm geworden?
Joshua Wong: Falls die Zeit im Knast irgendwas mit mir gemacht hat, dann hat sie meinen Glauben daran gestärkt, dass das, wofür wir kämpfen, das Richtige ist. Allein wie viele Leute wir auf die Straße brachten, war beeindruckend. Mehr als 100.000 zu verschiedenen Zeitpunkten protestierten für die demokratische Selbstbestimmung von Hongkong und gegen den zunehmenden Einfluss aus Peking. Ich weiß jetzt, dass den Menschen die Zukunft unserer Stadt wichtig ist. Mit dieser Gewissheit lohnt es sich, jeden weiteren Schritt zu tun.
Also auch den Gang ins Gefängnis. Aber war Ihnen vorher klar, dass es so weit kommen könnte?
Mit den Aufständen begannen wir, als klar wurde, dass die Kandidaten zu den Hongkonger Gouverneurswahlen zunächst aus Peking abgesegnet werden sollten. Demokratische Mitbestimmung wurde also zur Farce herabgestuft. Wenn man sich dagegen wehren will, ist auch klar, dass man sich in Gefahr begibt. Am Ende ist jeder Protest ein Akt des Ungehorsams. Genau das sollte durch die politischen Neuerungen aus Peking ja unterbunden werden.
„Wir haben eine lebendige Zivilgesellschaft und viele Menschen, die bereit sind, für ihre Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Und dass die ganze Welt weiß, was in Hongkong vor sich geht, ist unser Verdienst“
Wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht wurden Sie zu sechs Monaten Haft verurteilt. Es ging darum, dass Sie während der Proteste einen öffentlichen Platz nicht rechtzeitig geräumt hatten. Wie war der Alltag im Knast?
Für den Kopf war das Leben dort ganz einfach, auf gefährliche Weise sogar. Es gab nämlich keine Optionen. Auf alles Mögliche, was einem die Offiziellen sagten, durfte man nur mit „Ja“ reagieren. Und wenn die richtige Antwort mal „Nein“ war, zum Beispiel auf die Frage, ob man noch irgendwas brauche, sollte man stattdessen „Sorry, Sir“ sagen. Die Moral davon ist wohl: Zustimmen ist einfach, ablehnen aber schon ein halbes Vergehen. Der Tagesablauf war auch klar geregelt: aufstehen, antreten, essen, wieder antreten. Die Hierarchien waren natürlich auch klar. Immerhin durfte jeder Insasse eine Zeitung abonnieren, und über einen Fernseher konnte man die Nachrichten sehen.
Regierungssystem Hongkong
Die Verfassung Hongkongs heißt Basic Law und wurde am 1. Juli 1997 wirksam. Darin ist unter anderem geregelt, dass Hongkong ein Teil Chinas ist und dennoch weitgehend Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit besteht. Dieses Konzept nennt man „ein Land, zwei Systeme“. Der Chief Executive der Sonderverwaltungszone Hongkong, der die Funktion des früheren Gouverneurs übernimmt, wird von einem rund 1.200-köpfigen Komitee gewählt. Dieses Wahlkomitee soll die Interessen in Hongkong widerspiegeln. Es wird nur von einem Bruchteil der Bevölkerung gewählt. Seine Mitglieder kommen aus vier verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, darunter auch Hongkonger Delegierte des Nationalen Volkskongresses von Festlandchina. Der Chief Executive ernennt dann sein Kabinett. Das Stadtparlament wiederum, genannt Legislative Council, wird durch Wahlen bestimmt. Das seit der Rückgabe Hongkongs 1997 geltende Basic Law hatte der Bevölkerung Hongkongs einst direkte Wahlen in Aussicht gestellt, doch eine Wahlreform gab es bislang nicht, auch nicht nach den sogenannten Regenschirm-Protesten im Jahr 2014. Diese entzündeten sich auch an Pekings Entschluss, die Kandidierenden zum Chief Executive künftig vor der Wahl zu „begutachten“. Dazu kam es zwar nicht, Peking blieb jedoch dabei, die Kandidaten weiterhin über das nicht repräsentative Wahlkomitee wählen zu lassen. Demokratieaktivisten kritisieren, dass den demokratischen Kräften nur wenige Plätze im Wahlkomitee zugesprochen werden und somit in der Bevölkerung beliebte Politiker kaum Gouverneur werden können.
Das Gefängnis ist also auch eine charakterliche Umerziehungsanstalt.
So sieht es aus. Wer wieder rauskommt, soll Autoritäten gehorchen, sich anpassen, nicht mehr anecken. Im Gefängnis geht es deshalb nicht nur um Einschüchterung und schon gar nicht nur um Bestrafung. Demokratisch denkende Bürger sind von Peking nicht gewollt. Deshalb sollen Hongkongs Gefängnisse die schwierigsten Fälle zurechtstutzen.
Sind die Erfahrungen hinter Gittern ein hochkonzentrierter Vorgeschmack auf das, was die Hongkonger in Zukunft auch draußen erwartet?
Zum Gefängnis ist Hongkong noch nicht geworden. In einigen Bereichen ist unsere Stadt jetzt semiautokratisch. Im letzten Jahr wurde die Hongkonger Wahl auf die Weise durchgeführt, wie sie von Peking angedacht worden war und wogegen wir uns gewehrt hatten. Wir konnten wählen, aber was den wichtigsten Gouverneursposten anging, durften viele unserer beliebten Alternativen eben nicht auf dem Zettel stehen. Es kommen immer weitere Beschneidungen. Auch die Presse vertritt mehr und mehr die Linie Pekings. Und wir merken, dass wir nicht viel dagegen tun können. Durch die Umbrella-Proteste hat sich ja auch herausgestellt, dass sich die Pekinger Regierung unter Xi Jinping von Volksaufständen nicht besonders beeindrucken lässt.
Das klingt nach Aufgabe, auch wenn es niemand wahrhaben will.
So will ich es nicht nennen. Für viele der jüngeren Hongkonger, die Proteste in früheren Jahren nicht miterlebt haben, war das Umbrella-Movement ein Weckruf. Es ist ein Wir-Gefühl entstanden, das sich gegen politische Vereinnahmung richtet. Heute gibt es mehr öffentliche und halböffentliche Veranstaltungen, bei denen das politische Schicksal des Stadtstaats zumindest diskutiert wird. Wir haben eine lebendige Zivilgesellschaft und viele Menschen, die bereit sind, für ihre Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Und dass die ganze Welt weiß, was in Hongkong vor sich geht, ist unser Verdienst.
Xi Jinping hat sich mit neuen Rechten ausstatten lassen, Kritik an ihm kann künftig als Verstoß gegen die Verfassung interpretiert werden. Wird sich dies auch negativ auf die Demokratieaktivisten in Hongkong auswirken?
Das Hongkonger Basic Law garantiert Meinungsfreiheit, insofern sollten wir geschützt sein. Andererseits bekamen wir Aktivisten schon für unsere Proteste im Herbst 2014 große Probleme. Generell wird die Luft für demokratische Stimmen dünner, und die Entwicklungen in Peking sind bestimmt kein gutes Zeichen.
Wie kann man sich wehren?
Wir müssen aktiv bleiben. Internationale Aufmerksamkeit ist wichtig. Denn anders als in China können die Menschen in Hongkong Informationen über das Internet erhalten. Wir dürfen also nicht müde werden.
Zur Zeit der Umbrella-Proteste waren Sie noch Schüler, mittlerweile studieren Sie Politikwissenschaften. Ihr Leben werden Sie jetzt also dem Kampf um Freiheit widmen?
Das ist der Plan. Mit Nathan Law, der nach 2014 auch ins Gefängnis musste, habe ich vor zwei Jahren die Partei Demosisto gegründet. Nathan bekam bei der Wahl 2017 gleich einen Platz im Stadtparlament, wurde aber später disqualifiziert, weil er seinen Schwur bei Amtsantritt angeblich nicht auf die richtige Weise abgelegt hatte. Durch solche unverhältnismäßigen Strafen lässt uns die Regierung wissen, dass wir hier keinen Platz haben sollen. Aber Hongkong ist auch unsere Heimat. Wir werden weitermachen.
Wie geht es für Sie persönlich weiter?
Für mich steht erst mal eine zweite Gefängnisstrafe an. Ich weiß noch nicht genau, wann ich sie antreten muss, aber es dreht sich noch immer um meine Rolle bei den Umbrella-Protesten. Und dann muss ich mein Politikstudium abschließen. Aber den Kampf für Hongkong werde ich nicht vernachlässigen.
Titelbild: ANTHONY WALLACE/AFP/Getty Images