Für viele Armenier waren die zehn Jahre der Präsidentschaft Sersch Sargsjans eine Zeit des Stillstands und der Korruption. Damit sollte nach Ende seiner zweiten Amtszeit im April 2018 eigentlich Schluss sein. Sersch Sargsjan durfte nicht mehr als Präsident kandidieren. Doch er ließ sich nach der Parlamentswahl – die seine Republikanische Partei Armeniens gewann – stattdessen vom Parlament zum Ministerpräsidenten wählen. Das Brisante daran: Bei einem von ihm vorangetriebenen Volksentscheid hatte die armenische Bevölkerung vor drei Jahren dafür gestimmt, nach der nächsten Wahl – also jetzt – wesentliche Befugnisse vom Amt des Präsidenten auf das des Ministerpräsidenten zu übertragen. Sargsjan konnte die Verfassungsänderung also dazu nutzen, im neuen Gewand weiter an der Macht zu bleiben – und das, obwohl er zuvor mehrfach bestritten hatte, Ministerpräsident werden zu wollen. Vielen ging das zu weit: Große Teile der Bevölkerung protestierten. Mit friedlichen Straßenblockaden legten die Demonstrierenden erst die Hauptstadt Jerewan, dann das ganze Land still. Die Abdankung Sargsjans am 23. April wurde landesweit gefeiert. Am 8. Mai wurde der Oppositions- und Protestführer Nikol Paschinjan zum Ministerpräsidenten gewählt.
Fünf junge Menschen haben uns erzählt, wie sie die Zeit des Umbruchs erlebt und welche Wünsche sie für die Zukunft Armeniens haben.
„Die Forderungen gingen von ganz einfachen Dingen wie sauberen Toiletten über besseres Gehalt für die Lehrenden bis zu mehr kritischem Denken und Diskussionen im Unterricht“
Davit Petrosyan, 22, Politikstudent
Wir haben schon im Oktober 2017 angefangen zu protestieren. Damals ging es um das geplante neue Gesetz, das es möglich machen sollte, auch Studenten zur Armee einzuziehen. Wir waren nicht prinzipiell gegen die Armee, aber wir wollten einen Kompromiss finden, sodass niemand sein Studium deshalb abbrechen muss. Wir haben schnell gemerkt, dass niemand daran interessiert war, ernsthaft mit uns zu reden.
Ich war deshalb mit einer Studierendeninitiative von Anfang an bei den Protesten dabei. Wir haben die Forderungen der Studierenden gesammelt. Die gingen von ganz einfachen Dingen wie Toilettenpapier und sauberen Toiletten über besseres Gehalt für die Lehrenden bis zu mehr kritischem Denken und Diskussionen im Unterricht.
Ich selbst habe sogar bei einer Kundgebung auf dem Platz der Republik gesprochen. Ich hatte das Gefühl, es sei wichtig, dass jemand von den Studierenden spricht. Ein Freund hat mich ermutigt, deshalb habe ich es gemacht.
Wir haben noch viel zu tun, und wir werden auf jeden Fall weiter daran arbeiten, Hochschulreformen durchzusetzen, egal wie die neue Regierung Armeniens aussehen wird.
„Ich hoffe, es kommen viele Armenier aus der Diaspora zurück und wir nutzen gemeinsam die Chance“
Gayane Aghayan, 22, promoviert in Kunstwissenschaft
Ich war bei den Demonstrationen, weil ich wissen wollte, was passiert. Aktiv war ich nicht. Auch weil ich Angst hatte, dass wieder so etwas passiert wie am 1. März 2008, als Sargsjan an die Macht kam und gleich auf Demonstranten schießen ließ. Ich war ein Kind, aber ich erinnere mich noch, wie traurig alle waren.
Aber diesmal waren alle fröhlich, und es lief gewaltlos ab. Es wurde viel gesungen und getanzt auf den Straßen, es war eine große Einigkeit zu spüren.
Ich arbeite für eine kleine Organisation, die politische Bildung jenseits der formalen Institutionen fördert, und es war toll, bei den Protesten Studierende zu treffen, die das Gelernte umsetzten. Die jetzigen Veränderungen verdanken wir unserer aktiven Zivilgesellschaft.
Es muss sich noch viel verändern. In unserem Land trifft man bei jedem Schritt auf ein Problem. Ich hoffe, es kommen viele Armenier aus der Diaspora zurück und wir nutzen gemeinsam die Chance.
„Am 1. September werden Schüler und Studenten dieses Jahr ein neues Schuljahr in einem neuen Armenien anfangen, das sie selbst geschaffen haben“
Harutyun Hovakimyan, 23, Physikdoktorand
Die Proteste nach der Wahl 2013 waren für mich der Anstoß, mich politisch zu engagieren. Wir sind durch die Universitäten gegangen und haben über Politik gesprochen, und immer mehr Leute haben sich uns angeschlossen. So war es diesmal auch, aber wir waren noch viel, viel mehr. Wir haben Straßenkreuzungen blockiert, Lärm gemacht, demonstriert, von morgens bis in die Nacht.
Das Wichtigste ist die Reform des Bildungssystems – und die hat schon begonnen. Immer noch gibt es an Universitäten und Schulen im ganzen Land Proteste gegen korrupte Direktoren. Schüler und Studenten haben ein ganz neues Selbstbewusstsein bekommen. Am 1. September werden Schüler und Studenten dieses Jahr ein neues Schuljahr in einem neuen Armenien anfangen, das sie selbst geschaffen haben.
Es gab auch eine neue Verbindung zur Diaspora: Armenier, die ausgewandert sind, und solche, die schon im Ausland geboren wurden, sind nach Armenien gekommen, um die Revolution zu unterstützen. Ich denke, es werden viele von ihnen bleiben und noch mehr zurückkommen. Sie werden hier Unternehmen gründen, wenn sich die Verhältnisse erst mal geändert haben. Ich bin sehr optimistisch. Ich denke, jetzt können wir alles schaffen.
„Es ist eine Sache, eine Revolution zu machen, und eine andere, was dann daraus wird“
Narek Simonyan, 27, Musiker
Wir mussten einfach demonstrieren, um unser Leben wieder besser zu machen. Ich habe wie alle anderen Straßen blockiert, Lärm gemacht und Online-Artikel geschrieben. Es war eine Befreiung.
Vor der Revolution waren wir tot. Wir machten nichts mehr. Wir hatten ein Gefühl davon, was wir tun könnten, was vielleicht woanders möglich wäre, aber wir konnten nichts machen. Wir dachten, alle sind gegen uns und niemand würde uns helfen, am wenigsten würden wir einander helfen. Alle waren nur traurig und verbittert, weil sich nie was ändern würde. Nun sehen wir wieder Möglichkeiten, politisch, kulturell, zwischenmenschlich. Wir vertrauen einander wieder mehr, wir sind ehrlicher miteinander, wir werden wieder offener. Als wir erfuhren, dass Sargsjan zurückgetreten ist, haben wir uns auf der Straße umarmt, wir haben getanzt, das war so lange undenkbar.
Ich hoffe, die neue Freundlichkeit bleibt. Aber es ist eine Sache, eine Revolution zu machen, und eine andere, was dann daraus wird. Aber jetzt gerade ist alles viel freier und offener.
„Unser Kampf geht weiter. Gegen Gewalt vor allem in den Familien, gegen sexuelle Belästigung, gegen verbale Angriffe“
Arpi Balyan, 27, feministische Aktivistin
Wir sind ungefähr 100 aktive Feministinnen in Armenien, und wir haben uns den Protesten angeschlossen, weil auch wir gegen die Regierung und gegen die Oligarchen sind. So vieles ist in Armenien monopolisiert, zu vieles gehört zu wenigen. Sargsjan hat sich immer als Vater des Volkes bezeichnet, aber wir wollten nicht seine Kinder sein.
Wir haben Straßen blockiert und demonstriert, zusammen mit anderen, die sich nie mit Feminismus beschäftigt haben. Die uns sonst sogar beschimpft hätten. Das war ein großer Erfolg. Bei einer Aktion haben Frauen jede Nacht um elf mit Löffeln und Töpfen von ihren Fenstern aus Lärm gemacht. Das war ihre Form zu protestieren. Für uns war wichtig, dass wir mit anderen zusammen gekämpft haben.
Unser Kampf geht weiter. Gegen Gewalt vor allem in den Familien, gegen sexuelle Belästigung, gegen verbale Angriffe. Das sind alles Dinge, die wenig mit Gesetzen zu ändern sind und für die es eigentlich egal ist, wer Ministerpräsident ist. Wir brauchen nicht nur eine politische Revolution, wir brauchen vor allem eine kulturelle Revolution.
Ich will erst einmal ins Ausland, um dort zu studieren, mich weiterzuentwickeln. Aber ich werde ganz bestimmt zurückkommen. Wir haben hier noch viel zu verändern.
Wer ist Nikol Paschinjan?
Der 42-jährige Nikol Paschinjan war lange ein Oppositionspolitiker unter vielen. Seit Jahren kämpft er mit seinen Mitstreitern gegen korrupte Strukturen im Land. Im Jahr 2013 gründeten sie die Bewegung Civil Contract, der vier Jahre später der Einzug in die Nationalversammlung gelang. Dort stellt sie jedoch weniger als zehn Prozent der Abgeordneten und führt auch nicht die parlamentarische Opposition an. Er ist umstritten. Seine Popularität bei seinen Anhängern verdankt der ehemalige Journalist seinem Protestmarsch gegen den geplanten Machterhalt des Präsidenten Sargsjan von der Stadt Gjumri, im Nordwesten der Republik, in die Hauptstadt Jerewan. Was anfangs wenige interessierte, wurde zu einer Bewegung, die sich mit Studentenprotesten in der Hauptstadt verband. Paschinjan wurde zu ihrem prominenten Sprecher. Im Parlament reichten die Stimmen seiner Unterstützer zunächst jedoch nicht aus: Als die Abgeordneten am 1. Mai einen neuen Premierminister wählen sollten, fehlten Paschinjan als einzigem Kandidaten mit 45 Abgeordnetenstimmen 8 Stimmen zur notwendigen absoluten Mehrheit. Paschinjan rief anschließend zu weiteren Demonstrationen und Blockaden auf. Unter dem Druck der Straße unterstützte auch die regierende Republikanische Partei letztlich Paschinjan, der beim zweiten Durchgang am 8. Mai dann doch zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.