Worum geht’s?
Um den riskanten Job von Olga Baranova und David Isteev: Für die NGO „Russian LGBT Network“ schleusen sie Männer und Frauen aus Tschetschenien ins Ausland. In der russischen Teilrepublik leben queere Menschen gefährlich: Medien und Menschenrechtsorganisationen berichten von Gefängnissen, in denen schwule Männer zwangsinterniert und gefoltert wurden, um andere Schwule zu denunzieren. Einmal geoutet, laufen sie Gefahr, von der eigenen Familie ermordet zu werden. Staatschef Ramsan Kadyrow streitet solche Nachrichten ab: „Bei uns gibt es keine Schwulen“, sagte er in einem HBO-Interview.
Neben Baranova und Isteev begleitet die Doku Maxim Lapunov. Er, der zum Arbeiten in die tschetschenische Hauptstadt Grozny gekommen war, wird wegen seiner Homosexualität gekidnappt und gefoltert. Zunächst scheint Lapunov Glück zu haben: Er wird freigelassen und kehrt in seine Heimat zurück. Dort werden er und seine Familie allerdings bedroht: Die Täter fürchten, Lapunov könne mit seinen Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen. Fortan muss sich seine Familie verstecken.
Wie wird’s erzählt?
Der US-amerikanische Investigativreporter David France folgt in seinem dritten Dokumentarfilm vor allem den AktivistInnen Isteev und Baranova: auf einer nervenaufreibenden Flucht über die tschetschenische Grenze; in einen Unterschlupf für Geflüchtete in Moskau oder bis in ein Fast-Food-Lokal, in dem sie undercover die lesbische Tochter eines hohen Beamten treffen. Da selbst in den riskantesten Situationen eine Kamera dabei ist, wirkt „Welcome to Chechnya“ stellenweise wie ein Actionfilm.
Gut zu wissen: Deepfakes – ein Kompositum aus „Deep Learning“ und „Fake“ – sind mithilfe von künstlicher Intelligenz generierte Fakebilder und -videos. Heute kann Software, gefüttert mit Abertausenden Originalbildern, täuschend echtes Bildmaterial herstellen, indem Gesichter vertauscht werden und Personen Dinge sagen oder tun, die sie nie gesagt oder getan haben. Per App können mittlerweile auch Laien Deepfakes erzeugen.
Wie real Angst und Verfolgung sind, zeigt sich aber unter anderem darin, dass France die Identität der Geflüchteten schützt. Am Anfang fragt man sich noch, warum ihre Gesichter offen gezeigt werden – bis man realisiert, dass sie durch Deepfakes ersetzt wurden. Ein Kunstgriff: Dass France die Gesichter nicht – wie sonst bei Anonymisierungen üblich – verpixelt, ermöglicht den ZuschauerInnen eine stärkere Beziehung zu den ProtagonistInnen.
Daneben greift „Welcome to Chechnya“ immer wieder auf Videos von Überwachungskameras oder Smartphones zurück. Sie zeigen, wie Männer und Frauen misshandelt werden. Die extreme körperliche und sexuelle Gewalt ist verstörend, nicht jeder kann und sollte sich diese Szenen anschauen. Sie funktionieren aber als Reality-Check: Ob man von Menschenrechtsverstößen hört oder sie direkt sieht, macht einen Unterschied.
Good Job!
Die Doku lässt einen über die extreme Nähe zu den ProtagonistInnen weit tiefere Gefühle durchleben, als man es vom Genre Dokumentarfilm sonst gewohnt ist. In einer denkwürdigen Szene erzählt Maxim Lapunov von der Gastfreundschaft der TschetschenInnen, die er anfangs erlebte und aus Russland nicht kannte. Wie können Menschen gleichzeitig so freundlich und so grausam sein?
Was bleibt?
Dass Homofeindlichkeit nichts Abstraktes ist – sondern fatal für einzelne Menschen. „Welcome to Chechnya“ macht solche Schicksale greifbar. Auch indem die Doku keinen Hehl aus der krassen Gewalt macht, die den Menschen widerfährt. Die Lage in Tschetschenien selbst wird eine Doku nicht verändern können. Aber der diplomatische Druck steigt: Die EU verhängte kürzlich Sanktionen gegen zwei ranghohe tschetschenische Beamte. Einer von ihnen ist Kommandeur einer speziellen Sicherheitseinheit, die für die Verfolgung von Schwulen verantwortlich ist.
„Welcome to Chechnya“ ist unter dem deutschen Titel „Achtung Lebensgefahr!“ bis 17. Juli 2021 in der Arte-Mediathek zu sehen.
Titelbild: Courtesy of HBO