Fragt man in der Ukraine zehn Passant*innen, ob die Gesellschaft akzeptieren sollte, dass manche Menschen schwul oder lesbisch sind, sagen sieben Nein. Zumindest der Statistik nach, die das PEW Research Center 2019 nach einer repräsentativen Umfrage erstellt hat.
Zwar ist Homosexualität in dem EU-Nachbarland seit 1991 legal und die Ukraine auch ein möglicher Beitrittskandidat. Zoomt man mit Mitgliedern der LGBTIQ+-Community, scheint es mit den vermeintlich europäischen Werten Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit aber nicht so weit her zu sein: Noch immer werden sie regelmäßig Opfer von Gewalt, Diskriminierung und Mobbing.
In der Ukraine machen Rechtsradikale mit sogenannten Safaris Jagd auf Demonstrant*innen von LGBTIQ+, die Polizei schützt sie laut Beobachter*innen nur mäßig und auf dem Event an sich. Davor und danach bleibt es für Besuchende gefährlich: Jedes Jahr kommt es am Rande der Pride-Veranstaltungen zu Hassverbrechen, die meist ohne Konsequenzen für die Täter*innen bleiben.
Vernetzt sind die Angreifer*innen vor allem in Telegram-Gruppen. Hier setzen sie Aktivist*innen wie die Ärztin Daryna Dmytriievska auf schwarze Listen, oft inklusive Foto, Adresse und der Aufforderung zu Vergewaltigung oder gar Mord, wie Daryna erzählt. „Davon lasse ich mich nicht beirren“, sagt sie. Öffentlichkeit sei eine Form von Schutz und die gesamte LGBTIQ+-Community ihr Schutzschild. Sie organisiert Workshops, um Mediziner*innen mit LGBTIQ+-Themen vertrauter zu machen.
Neben rechtsradikalen Gruppen gelten viele Kirchen als Gegenspielerinnen der LGBTIQ+-Bewegung. „Sie sind ultrakonservativ, politisch einflussreich und in allen Belangen gegen unsere Anliegen“, sagt Andrii Kravchuk, Co-Gründer der Organisation Nash Mir.
Aber er sagt auch, in manchen Bevölkerungsgruppen wachse die Unterstützung. Beim letzten Pride March 2019 zum Beispiel hätten 8.000 Menschen teilgenommen. Und jedes Jahr würden es mehr.
Fünf Protagonist*innen aus der LGBTIQ+-Bewegung geben Einblicke in ihr Leben und den Status quo.
„Ich schätze, dass es noch 10 bis 20 Jahre dauern wird, bis wir in LGBTIQ+-Angelegenheiten EU-Standards erreichen“
Edward Reese, 35, Projektassistenz bei der NGO KyivPride
Im Januar 2019 verließ ich meinen gewalttätigen Partner nach über zwölf Jahren Beziehung und floh nach Kiew. Als ich ging, nahm ich nur Geld und ein paar Sachen, sprang in den Nachtzug und in ein neues Leben. Hier in der Hauptstadt habe ich viele Freunde. Wir nennen uns „Klub der Verlierer“, inspiriert von Stephen Kings Roman „Es“. Mit ihnen fühle ich mich frei und glücklich. Sie geben mir das Gefühl von Geborgenheit.
Heute kämpfe ich für die Rechte von Nichtbinären, Transmenschen und gegen häusliche Gewalt. Unter anderem mit meinem TikTok-Kanal. Er hat schon 20.000 Follower*innen. Das ist keine große Zahl auf der Plattform, aber eine große Zahl für mich: Der Kanal ist mein persönlicher Ort, an dem ich kleine Lehrvideos zu Queerness, unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen veröffentliche.
Rechtsradikale kommentieren meine Posts mit Morddrohungen. Diese Leute sind eine konstante und ernsthafte Bedrohung: nicht nur bei den Pride-Märschen, sondern auch in unserem täglichen Leben. Die Opfer neigen jedoch dazu, Vorfälle nicht bei der Polizei zu melden, da sie nicht strafrechtlich verfolgt werden.
Ich schätze, dass es noch 10 bis 20 Jahre dauern wird, bis wir in LGBTIQ+-Angelegenheiten EU-Standards erreichen. Und doch bin ich zuversichtlich: Unsere Community wächst und wird stärker.
„Als ich zur Armee kam, entschied ich, mich zu ‚korrigieren‘ und die Liebe zum gleichen Geschlecht loszuwerden“
Viktor Pylypenko, 34, Linguist und ehemaliger Soldat, Gründer der NGO LGBT Military
Geboren wurde ich in der Stadt Riwne, im Nordwesten der Ukraine. Als ich zehn Jahre alt war, zogen wir nach Kiew. Die Zeiten in den 80er- und 90er-Jahren, als die Sowjetunion stagnierte und sich schließlich auflöste, waren geprägt von der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Es war sehr hart, die Menschen litten auf allen Ebenen. Noch heute erinnert sich meine Mutter manchmal daran, dass sie zum Beispiel für uns Kinder keine Milch bekommen konnte. Das Hauptthema zu dieser Zeit war, das Überleben zu sichern. Über Sexualität wurde nicht gesprochen, das Wort „Sex“ war verboten. Über Homosexualität machten sich die Leute lustig mit schwulenfeindlichen Sowjet-Anekdoten und Gefängniswitzen.
2009 habe ich mich zum ersten Mal verliebt. Leider war mein Schwarm heterosexuell und lehnte mich ab. Das war sehr hart für mich. Ich bin durch meine BA-Prüfungen gerasselt, habe mich für meine Gefühle verurteilt und eine Art innere Homophobie entwickelt.
Als ich zur Armee kam, entschied ich, mich zu „korrigieren“ und die Liebe zum gleichen Geschlecht loszuwerden. Geklappt hat das natürlich nicht. Durch das Militär habe ich aber viel gelernt: unter anderem, wie man in Zeiten von Stress oder innerer Wut ruhig bleibt. Das hat mir geholfen, nicht nur andere zu respektieren, sondern auch mich selbst und meine Gefühle. Nach einem Dienstjahr ging ich zurück zur Universität, schloss meinen Bachelor ab und machte meinen MA. Jetzt studiere ich online 3-D-Modellierung. Den Rest meiner Zeit widme ich meiner Gruppe von LGBTIQ+-Soldat*innen. Eines unserer Ziele ist es, das Recht auf Eheschließung zu erreichen und sichtbar zu machen, wie weit unsere Post-Maidan-Gesellschaft fortgeschritten ist: Die radikal Rechten werden vom überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht unterstützt und haben im Gegensatz zu Deutschland keine Sitze im Parlament.
„Ich habe die Hormonbehandlung selbst durchgeführt und mich von einer anderen Transperson beraten lassen“
Inna Iryskina, 43, IT-Spezialistin und Trans-Programm-Koordinatorin bei der LGBTIQ+-NGO Insight
Schon in der Pubertät wurde mir klar, dass ich kein Junge bin. Aber ich hatte damals kein Wort dafür. In den frühen Neunzigern entdeckte meine Mutter, dass ich heimlich ihre Kleider trug, wenn sie nicht zu Hause war. Sie sagte mir, ich solle damit aufhören. Lange habe ich versucht, nicht darüber nachzudenken, aber meine Gefühle kehrten immer zurück.
Als das Internet kam, war es eine große Befreiung: Im Jahr 2000 entdeckte ich eine Community von Transfrauen* online. Die Gründerin der Gruppe lebte in Kiew. Weil ich mir so viele Gedanken machte über meine Weiblichkeit und wie ich sie leben kann, sagte sie mir später, sie habe schon bei unserem ersten Treffen geahnt, dass ich trans bin. Beziehungsweise: eine Transsexuelle, wie man damals sagte. Ich war mir jedoch selbst noch nicht ganz sicher, da meine Familie mich nicht akzeptiert hatte. Auch nachdem meine Mutter gestorben war, dauerte meine Selbstfindung an. 2006 beschloss ich, mich nicht mehr zu verstecken und meine Transition zu starten. Ich ließ meine Gesichtsbehaarung entfernen und begann mit der Hormontherapie. Die ukrainischen Ärzt*innen waren zu dieser Zeit in der Trans-Gesundheitsfürsorge sehr schlecht qualifiziert. Also habe ich die Hormonbehandlung selbst durchgeführt und mich von einer anderen Transperson beraten lassen. Heute arbeite ich zum Glück mit einem Endokrinologen.
Eineinhalb Jahre nach Beginn der Therapie, am Frauentag, ging ich zum ersten Mal offiziell als mein wahres Ich zur Arbeit. Die Reaktion meines Arbeitgebers und meiner Kolleg*innen war sehr unterstützend.
„Wenn wir in der Öffentlichkeit sind, halten wir normalerweise nicht Händchen“
Anna Dovgopol, 39, Gender-Expertin und Gender-Programm-Koordinatorin bei der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine
Bis ich 21 war, dachte ich, ich sei hetero. Doch als ich eine Freundin mit ihrer Partnerin beobachtete, spürte ich, dass sich deren Zärtlichkeit auch für mich viel natürlicher anfühlt. In der Ukraine gibt es in der Schule kaum sexuelle Aufklärung. In Kirgistan, wo ich vier Jahre gelebt habe, baute ich zusammen mit anderen Frauen* die Organisation Labrys auf. 2004 waren wir die erste Gruppe, die Lesben und Transmenschen in Zentralasien vertrat. Heute ist sie dort die größte LGBTIQ+-Organisation.
Mein LGBTIQ+-Leben unterscheidet sich nicht von dem anderer: Meine Freundin und ich gehen einkaufen, wir kochen, wir füttern unsere Katze. Es gibt jedoch einen Unterschied in unserem täglichen Leben: Wenn wir in der Öffentlichkeit sind, halten wir normalerweise nicht Händchen. Manche Leute schauen mich wegen meiner Haare komisch an. Selbst im Jahr 2021 ist es nicht üblich, als Frau eine Kurzhaarfrisur zu tragen. In gewisser Weise müssen wir immer auf der Hut sein: zum Beispiel, wenn wir mit Menschen sprechen, die wir noch nicht kennen, und das Gespräch übergeht auf persönlichere Themen wie das Familienleben. Ich selbst wurde zwar noch nie angegriffen, aber man kann das Risikopotenzial in allen Aspekten des Alltags spüren.
„Die Leute müssten nur verstehen, dass es egal ist, wen man liebt“
Liudmyla Yutskevych, 31, Ingenieurin und Programmdirektorin bei Gay Alliance Ukraine
In Smila, wo ich herkomme, dachte ich immer, dass etwas mit mir nicht stimmt. Mit 17 ging ich nach Kiew. Dort fand ich nicht nur gleichgesinnte Freund*innen, sondern entdeckte auch, dass ich genau so richtig bin, wie ich bin. Es interessiert hier niemanden, ob ich meine Haare blau oder rosa färbe und ob ich eine Glitzerjacke trage. Diese gelebte Vielfalt der verschiedenen Menschen schätze ich sehr.
Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass ich mich zu Frauen* und Männern gleichermaßen hingezogen fühle. Meine Englischkenntnisse haben mir bei meiner Selbstfindung sehr geholfen, da ich die meisten Informationen über Bisexualität auf nichtukrainischen Websites gelesen habe. In meinem alten Job als Ingenieurin fühlte ich mich ausgebrannt. Ich dem männerdominierten Bereich konnte ich meine Karriere nicht in meinem Sinn gestalten: Mehrmals wurde mir gesagt, dass ich als Frau keine Chance habe, Chefingenieurin zu werden. Seit Februar arbeite ich bei Gay Alliance Ukraine als Programmdirektorin. Das Reisen war ein weiterer Faktor, mich zu öffnen und meine eigene Lebensweise mit anderen zu vergleichen. Der größte Gamechanger für unsere LGBTIQ+-Community wäre Akzeptanz seitens der Gesellschaft. Die Leute müssten nur verstehen, dass es egal ist, wen man liebt: Lasst die Menschen einfach ihr Leben führen.