Wiedergelesen: Diese Rezension erschien während der Berlinale im Frühjahr 2021, zum deutschen Filmstart bringen wir sie noch einmal
2019 war die Aufregung noch ziemlich groß. Etwa 160 deutsche Kinobetreiber*innen forderten in einem offenen Brief von der Berlinale, die erste Netflix-Produktion im Wettbewerb um den Goldenen Bären auszuschließen. Um den Film selbst, das Historiendrama „Elisa und Marcela“ über das erste lesbische Ehepaar, das in Spanien geheiratet hat, ging es dabei nicht. Stein des Anstoßes war vielmehr, dass er in Deutschland nie ins Kino kommen sollte.
Der Streit von damals berührt die immer noch aktuelle Frage, welche Rolle die großen Filmfestivals im Konflikt zwischen Kinos und Streamingdiensten einnehmen. Sollten die Festivals nicht die Interessen der Kinos stärken, also der Orte, wo sie – normalerweise – stattfinden? Die Filmfestspiele von Cannes haben sich schon 2018 klar positioniert und einen geplanten Kinostart in Frankreich zur Bedingung für alle Wettbewerbsfilme gemacht. Das Festival von Venedig erklärte im selben Jahr, dass es vor allem auf die künstlerische Qualität ankomme – und zeichnete den herausragenden Netflix-Film „Roma“ prompt mit dem Hauptpreis aus. Das neue Berlinale-Führungsduo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek sieht das ähnlich: Ein Ausschluss von Streamingtiteln wäre falsch, sagten die beiden bei ihrem Amtsantritt.
Kinos stecken in der Krise, der Streamingmarkt boomt
Wenn 2021 völlig normal erscheint, dass ein sogenanntes Netflix-Original wie „A Cop Movie“ auf einem virtuellen Berlinale-Event präsentiert wird, passt das zur Gesamtsituation der Filmwirtschaft. Die Kinobetriebe sind in einer schweren Krise, die sich deutlich in der Jahresbilanz zeigt: Im Vergleich zum Vorjahr kamen 2020 ganze 69 Prozent weniger Besucher*innen in die deutschen Lichtspielhäuser.
Zeitgleich boomt der Streamingmarkt. Die neu gestartete Plattform Disney+ konnte weltweit in ihrem ersten Jahr 87 Millionen Abos verkaufen, Netflix gewann 37 Millionen neue Mitglieder, auch Amazon Prime Video und HBO Max (in Deutschland noch nicht gestartet) legten 2020 zu. Während einige große Kinotitel des letzten Jahres immer noch auf ihre Veröffentlichung warten, starten immer mehr Filme digital. Allein Netflix hat für 2021 mindestens einen neuen Film pro Woche angekündigt. Die Anbieter befinden sich im Konkurrenzkampf um Lizenzen und Eigenproduktionen. Festivalruhm und Filmpreise sollen da zum jeweiligen Markenprestige beitragen.
„A Cop Movie“ scheint auf den ersten Blick ein paar Merkmale für festivaltaugliche Filmkunst zu erfüllen. Das Werk des mexikanischen Regisseurs Alonso Ruizpalacios hat politisch eine gewisse Wucht, weil es von der Realität des Polizeiberufs in Mexiko-Stadt erzählt. Es beweist Gespür für filmische Repräsentation, indem es die Erfahrungen einer indigenen Frau in diesem patriarchalen Umfeld ins Zentrum stellt. Und es hat eine ambitionierte Form, die fiktionale und dokumentarische Stilmittel miteinander verschmelzen lässt.
Die Frau im Zentrum heißt Teresa und hat in 17 Jahren Polizeidienst einiges erlebt: Korruption, Bedrohungen, Verfolgungsjagden. Einmal leistet sie spontan Geburtshilfe, als ihre Streife anstelle eines Krankenwagens gerufen wird. Anerkennung erhält die Polizei in Mexiko-Stadt für so viel Einsatz selten. Sie gilt als machtlos im Kampf gegen die organisierte Kriminalität und zu Recht als korrupt. Teresa schildert freimütig, dass jede Interaktion innerhalb der Behörde – sogar das tägliche Ausleihen von Waffen und Westen – nur mit Bestechungsgeld funktioniert. Die Ausgaben holen die Beamten ihrerseits bei Verkehrskontrollen und Ähnlichem von Zivilpersonen wieder herein.
Teresa und ihr Mann gehen als „Love Patrol“ auf Streife
Teresa muss sich außerdem jahrelang gegen den Sexismus des eigenen Vaters wehren, der ebenfalls als Polizist arbeitet. Doch Teresa findet als Beamtin ihre Berufung und später auch ihren Mann Montoya. Die beiden werden in der Truppe die „Love Patrol“ genannt. Sie bestechen sogar ihre Vorgesetzten, um weiterhin zusammenarbeiten zu können.
Nicht partners in crime, sondern partners against crime: Das Kuriose an dieser Geschichte mag Netflix bewogen haben, einen Non-Fiction-Film zu produzieren, der zwar dokumentarisch daherkommt, sich aber peu à peu selbst als Taschenspielertrick entlarvt. Erst wirkt die Inszenierung arg stilisiert, dann wird offengelegt, dass Teresa und Montoya hier von dem Schauspielerduo Mónica del Carmen und Raúl Briones verkörpert werden. Bilder vom Interview mit dem realen Paar, auf dem der Film hauptsächlich basiert, gibt es ganz zum Schluss. „A Cop Movie“ macht diese Täuschung so offensiv zum Thema, dass er ab der Hälfte fast zum Making-of wird. Das drängt die eigentlich starken Protagonist*innen in den Hintergrund, entfaltet aber auch keine Reflexion über das Wesen von Dokument und Fiktion. An einer Stelle heißt es, dass Raulpalacios schlicht keine reale Polizeiarbeit filmen durfte. So erscheint die ganze Form des Films als Verlegenheitslösung. Wie ein Festival, das als Streaming-Event stattfinden muss.
„A Cop Movie“ startet ab dem 28. Oktober in den deutschen Kinos und ab dem 5. November auf Netflix.
Titelbild: No Ficcion