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Zu spät für Versöhnung?

Seit November 2020 herrscht in Äthiopien Bürgerkrieg. Tigrayische Rebellen rückten bis vor die Hauptstadt, im Dezember startete die Regierung eine Gegenoffensive. Was haben die Menschen dort erlebt?

Es ist der 9. Dezember. Vor einem Café in Nefas Mewcha, einer kleinen Stadt im äthiopischen Bundesstaat Amhara, sitzen drei junge Männer auf bunten Schemeln um einen Plastiktisch und warten darauf, in den Krieg zu ziehen. Kleine Holzkreuze baumeln an Kordeln um ihre Hälse. Sie haben sich einen großen Teller mit gebratenem Fleisch bestellt und Softdrinks mit Strohhalmen. Die Haare haben sie sich schneiden lassen und Parfüm aufgetragen. Sie wollen gut aussehen an der Front.

Freiwillig in den Krieg

„Bevor ich hierhergekommen bin, hatte ich keine Ahnung vom Kämpfen“, sagt Mengistu, 26, der Älteste der drei. Seine Freunde Ashenafi, 25, und Terefe, 24, nicken stumm. Mengistu arbeitet eigentlich in Addis Abeba als Taxifahrer, Ashenafi hat einen Friseursalon, und Terefe ist Dekorateur. Vergangenen November sind sie dem Aufruf der äthiopischen Regierung gefolgt, sich dem Kampf gegen die tigrayischen Rebellen aus dem Norden des Landes anzuschließen. Sie sind aus der Hauptstadt nach Amhara in ein Trainingslager für Rekruten einer amharischen Miliz gereist. Alle drei gehören der Volksgruppe der Amhara an, der zweitgrößten von 80 Volksgruppen Äthiopiens. Alle drei gehen freiwillig in den Krieg.

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten, im Fernsehen mitanzusehen, wie die Tigrayer unsere Leute hinrichten“, sagt Ashenafi. Einer seiner Brüder und ein Onkel seien im August von den Rebellen erschossen worden. „Wir brauchen kein Geld. Für uns geht es in diesem Krieg um unsere Identität, um unsere Freiheit und das Leben unserer Familien.“

 

Um zu verstehen, worum es in dem Konflikt geht, der sich derzeit in Äthiopien abspielt, muss man einige Jahre zurückblicken. Von 1991 bis 2018 hat die „Volksbefreiungsfront von Tigray“, einem Bundesstaat im Norden des Landes, in dem ein Großteil der gleichnamigen Volksgruppe lebt, die etwa sechs Prozent der Bevölkerung ausmacht, 27 Jahre lang die Regierungskoalition der EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker) in Addis dominiert.

Als 2018 der junge Charismatiker und Angehörige der Volksgruppe der Oromo Abiy Ahmed die Parteispitze übernahm und Äthiopiens Premierminister wurde, ließ er kurz darauf die EPRDF auflösen und gründete stattdessen die „Wohlstandspartei“. Dem Bündnis schlossen sich viele der ehemaligen Koalitionspartner an – nicht aber die TPLF.

Abiy bekam international zunächst große Anerkennung: Er wurde dafür gelobt, dass er viele politische Gefangene begnadigte; für seine Aussöhnungspolitik mit dem einstigen Kriegsgegner Eritrea bekam er 2019 sogar den Friedensnobelpreis verliehen. Kurz darauf begann der Bürgerkrieg.

Im September 2020 ließ die TPLF gegen den Willen der Regierung in Addis Abeba Wahlen im Bundesstaat Tigray abhalten. Abiy Ahmed ordnete als Reaktion darauf eine Militäroffensive an, um die TPLF zu entwaffnen.

Zunächst hatte Abiy einen „schnellen Sieg“ versprochen. Doch was folgte, war ein Bürgerkrieg, in dem Abiy die eritreische Armee zur Unterstützung ins Land holte und auch die TPLF mit eigenen Streitkräften beteiligt war. Ein Krieg, in dem bislang Zehntausende ermordet und mindestens zwei Millionen Menschen vertrieben wurden. In dem die Vergewaltigung von Zivilistinnen großflächig als Waffe eingesetzt worden sein soll – gerade auch von eritreischen Soldaten –, genauso wie Hunger, indem Lebensmittellieferungen blockiert werden. Allein im Bundesland Tigray sind laut UN-Angaben 5,2 Millionen Menschen auf Hilfsgüter angewiesen.

Mit dem angeblichen Ziel, die Hungerblockade zu brechen und Abiy Ahmed zu stürzen, hatten die TPLF-Milizen bis Mitte November nicht nur weite Teile Tigrays, sondern auch Gebiete in den Bundesländern Afar und Amhara unter ihre Kontrolle gebracht. Als sie sich bis auf 180 Kilometer vor die Hauptstadt durchgekämpft hatten, kündigte Premierminister Abiy an, selbst an die Front zu gehen und die Streitkräfte anzuführen. Die Regierung meldete Rückeroberung um Rückeroberung.

Anfang Dezember hat die Regierung erstmals seit Monaten ausländische Journalisten an die Front durchgelassen, damit sie sich ein Bild vom Ausmaß des Krieges machen können.

Da sind zum Beispiel Orte wie Gashena, 70 Kilometer westlich von Nefas Mewcha: eine kleine Stadt, die an einer strategischen Kreuzung liegt und Anfang Dezember von den Regierungstruppen mit der Hilfe amharischer Milizen zurückerobert wurde.

Anfang August hatten die tigrayischen Rebellen Gashena mit seinen rund 20.000 Bewohnern eingenommen. Sie kappten Internet, Telefonleitungen, Fernsehen, Radio und Stromleitungen. Über Wochen drangen weder Informationen aus der Stadt nach außen noch in die Stadt hinein. Doch umso näher man der Stadt kommt, desto deutlicher werden die Spuren des Krieges. Die Einschusslöcher im Asphalt, abgebrannte Lehmhütten, zerstörte Panzer und Pick-ups am Straßenrand. Immer wieder überholen zu Bussen umfunktionierte Lastwagen, die Kämpfer an die Front bringen. In Gashena hört man im Minutentakt das dumpfe Knallen der Artillerie, die von hier aus auf die Stellung der Rebellen zehn Kilometer weiter abgefeuert wird.


Erst wird ihr Mann von der TPLF erschossen – dann muss Mazaa die Kämpfer bewirtschaften

„Ich bin so froh, dass der Horror endlich vorbei ist“, sagt Mazaa*, 28 (aus Sicherheitsgründen haben wir die Namen der Zivilist:innen in diesem Text geändert). „Als die Terroristen in die Stadt eingefallen sind, haben sie uns aus unseren Häusern vertrieben, weshalb ich mit meinen Kindern und meinem Mann hierher zu meiner Schwester geflohen bin.“ Sie sitzt in der Mitte einer Lehmhütte mit einem Dach aus Stroh, an der Wand hängen bunte Poster von Jesus Christus und verschiedenen Erzengeln. Die beiden Töchter, sechs und eineinhalb Jahre alt, tragen Fußballtrikots der äthiopischen Nationalmannschaft. Der Bauch der jüngeren ist vor Hunger aufgebläht.

„Seit sie meinen Mann ermordet haben, haben wir nicht mehr genug zu essen“, sagt Mazaa. Dann erzählt sie, wie die Kämpfer der TPLF ihren Mann gezwungen hätten, Kalaschnikows in ein Waffenlager zu schleppen, und ihn anschließend gemeinsam mit seinem besten Freund in eine kleine Hütte gesperrt und darin erschossen hätten. Ihre Schwester und sie hätten die beiden Männer darin tot aufgefunden.

Danach hätten sie sich über Wochen hinweg ein Zimmer mit den Rebellen teilen müssen. Sie mussten für sie kochen und sich als „amharische Esel“ beschimpfen lassen. Bis zu 40 Kämpferinnen und Kämpfer hätten manchmal im Haus übernachtet. „Wir haben jeden Tag gebetet, dass wir die Nacht überstehen“, sagt Liya*, Mazaas ältere Schwester.

Liya (Foto: Bartholomäus von Laffert)

Liya* (und ihre einjährige Nichte), deren Schwager von der TPLF ermordet wurde

(Foto: Bartholomäus von Laffert)

Es sind Geschichten, die so oder so ähnlich viele Menschen in Gashena erzählen. Geschichten, die von Drohungen bis hin zu Folter, sexualisierter Gewalt und Mord reichen. Insgesamt 57 Zivilist:innen sollen laut dem Bürgermeister in den vier Monaten der Besetzung durch die TPLF ermordet worden sein. Es sind Schilderungen, die sich nicht verifizieren lassen, weil es keine Fotos oder Videos davon gibt. Weil nicht viel mehr bleibt als die Erinnerungen der Bewohner Gashenas – und es keine Möglichkeiten gibt, mit der Gegenseite zu sprechen.



„Krebsgeschwür“ nennt der Präsident von Äthiopien die Tigrayer zu Kriegsbeginn

Und doch wird in Gashena dieser Tage klar, wie der Krieg, der als Machtkampf zwischen Abiy und der TPLF begann, inzwischen auch entlang ethnischer Linien geführt wird. Abiy selbst hatte die Tigrayer zu Beginn des Kriegs kollektiv als „Tageslicht-Hyänen“ und „Krebsgeschwür“ dämonisiert. Zum Konflikt hatte auch beigetragen, dass viele Tigrayer nach Abiys Machtübernahme aus Armee und Regierungsdienst entfernt und seit Anfang November Tausende Tigrayer in Addis Abeba festgenommen wurden. Am 18. November bestätigte die unabhängige Äthiopische Menschenrechtskommission (EHRC), dass die meisten der im Rahmen des derzeitigen Ausnahmezustands Inhaftierten aufgrund ihrer Identität festgenommen wurden.

Auf der anderen Seite fürchten ethnische Amhara wie die drei Freunde Mengistu, Ashenafi und Terefe, dass es die TPLF in Wahrheit nicht auf Abiy, sondern auf die Vernichtung der Amhara abgesehen hat. „Sie haben uns 27 Jahre terrorisiert und können nicht akzeptieren, dass es vorbei ist“, sagt Ashenafi. „Aber wir werden sie allesamt begraben.“

Mitte Dezember hat der Anführer der TPLF einen strategischen Rückzug seiner Truppen angeordnet und einen Brief geschrieben an Antonio Guterres, den Generalsekretär der Vereinten Nationen, in dem er eine Waffenruhe vorgeschlagen hat. Nachdem die äthiopische Armee die Regionen Afar und Amhara vollständig von der TPLF zurückerobert hatte, hat die Regierung am 23. Dezember angekündigt, vorerst nicht weiter nach Tigray vorzurücken. Am 7. Dezember, dem orthodoxen Weihnachtsfest, hatte Abiy zudem angekündigt, mehrere politische Gefangene, darunter hochrangige TPLF-Mitglieder, zu begnadigen und aus dem Gefängnis freizulassen, um den Weg frei zu machen für einen, wie er sagt, „nationalen Dialog“. Gleichzeitig sollen bei Luftangriffen der Regierungstruppen im Nordwesten Tigrays seit Jahresbeginn laut Angaben der Nachrichtenagentur Reuters bereits mehr als 70 Menschen getötet worden sein. Und so bleibt den Äthiopierinnen auch nach 14 Monaten Krieg nicht viel mehr, als zu hoffen, dass Frieden und Versöhnung irgendwann doch noch möglich sein werden.

Titelbild: Yasuyoshi Chiba / AFP / Getty

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