„Die Schlepper haben uns auf Lastwagen verladen, auf jedem mehr als hundert Menschen. Die Frauen saßen, die Männer standen. Ich trug ein Kind auf dem Rücken, vielleicht fünf Jahre alt, weil die Mutter Angst hatte, dass es zerquetscht wird. So fuhren wir fünf Tage durch die Wüste. Zu trinken gab es nicht mehr als eine kleine Flasche Wasser pro Tag. Wie viele von uns starben, weiß ich nicht mehr. Sechs habe ich mit meinen eigenen Händen vergraben. Du verziehst dein Gesicht? Willst du die Geschichte wirklich hören? Das war nur der Anfang.“
Idris ist wieder da. Zurück in der Stadt, die er 2017, als er 17 Jahre alt war, verließ und die er erst wieder betreten wollte, wenn er es zu etwas gebracht hat: Geld, Auto, Familie. Das war der Plan, als er vor zweieinhalb Jahren in Kassala in den Bus stieg, gleich hinter der Grenze zu Eritrea, von wo seine Eltern einst in den Sudan geflohen sind. Dort, wo sich die Taka Mountains wie stumpfe Zähne in einem löchrigen Gebiss aus der Steppe erheben und die Autos kilometerlang vor den Tankstellen stehen, weil das Benzin alle ist. In den Straßencafés sitzen Jugendliche zu Dutzenden, spielen Karten, rauchen. 60 Prozent der Sudanesen sind unter 24 Jahre, jeder vierte der 15- bis 24-Jährigen ist arbeitslos. Und so sitzen sie Tag für Tag, als würden sie warten, dass jemand kommt und sie fortführt von hier. Vor zweieinhalb Jahren hat Idris das Warten gereicht.
„Als ich mit meinen Freunden Mutassim und Faisal in den Bus nach Khartum stieg, hatte ich nichts als eine Hose und zwei T-Shirts in meinem Rucksack. Unseren Eltern haben wir nichts gesagt. Klar, wir hatten von den Gefahren gehört. Als 2013 vor Lampedusa das Flüchtlingsboot sank, sind viele Menschen aus Kassala ertrunken. Das war eine Tragödie. Aber wir kannten auch die Geschichten von denen, die es geschafft hatten. Ich habe mir vorgestellt, wie ich eines Tages in einem Café sitze, neben dem Eiffelturm.“
Am Busbahnhof von Kassala beginnt Idris‘ Flucht: „Im Sudan ist kein Platz für Träume“
Wir sitzen auf dem grün-gelb gemusterten Teppich im Schlafzimmer eines Freundes. An seinem Handgelenk trägt Idris eine vergoldete Armbanduhr mit gesprungenem Glas, deren Zeiger um Viertel vor zwölf stehen geblieben sind. „Kinder im Sudan haben Träume wie Kinder überall auf der Welt. Aber wenn du erwachsen wirst, merkst du bald: Im Sudan ist kein Platz für Träume.“ Idris, lange dunkle Locken, die an den Schläfen abrasiert sind, spricht mit der Stimme eines Jungen, lacht das heisere Lachen eines alten Mannes. Er hat sich ein Kissen hinter den Rücken geschoben, das linke Bein angewinkelt, das rechte ausgestreckt, immer wieder schnipst er mit dem Finger gegen den linken Zeh, als würde er hoffen, dass eines Tages das Gefühl zurückkommt.
„Als wir in Libyen im Taxi saßen, wurden wir angegriffen. Wir waren auf dem Weg nach Misrata, von wo die Boote nach Europa ablegen. Sie haben uns mitgenommen und in eine Lagerhalle gebracht. So eine aus weißen Ziegeln und mit einem Wellblechdach. Dort waren insgesamt 160 Menschen, die meisten aus Sudan, Eritrea und Äthiopien. Sie wollten 6.500 US-Dollar – von jedem von uns. Sie haben gesagt: ‚Wer zahlt, darf gehen.‘ Die anderen mussten sich jeden Morgen in einer Reihe hinsetzen.“
„Jeder wollte Sklave sein, weil man dann tagsüber auf den Feldern der Offiziere arbeiten konnte. Ich wurde nie gewählt“
Idris kreuzt die Beine, schlingt die Finger um die Knöchel, beugt den Oberkörper weit nach vorne, verharrt einige Sekunden in dieser Pose, die an einen zusammengefalteten Campingstuhl erinnert.
„Dann haben sie uns nacheinander aufgerufen. Drei Männer standen vor uns. Der erste hat dich nach der Telefonnummer deiner Familie gefragt. Dann hat er gewählt und dir das Telefon vors Gesicht gehalten. Sobald deine Familie abgehoben hat, haben die anderen beiden angefangen, dir die Seele aus dem Leib zu prügeln. Ich habe nur geschrien: ‚Wollt ihr, dass das ein Ende hat? Dann zahlt!‘ Meine Familie ist jeden einzelnen Tag ans Telefon gegangen.“
Welcher Tag und wie viel Uhr es ist – das weiß Idris während der Folter schon bald nicht mehr
Die Tage beginnen zu verschwimmen. Erst verlässt ihn das Gefühl für die Zeit, dann das Gefühl in seinem linken Fuß. Bald wiegt er nur noch 35 Kilo, ausgehungert wie „Fido Dido“, das Männlein auf den 7-Up-Dosen, sagt er. Und Idris verliert den Kontakt zu seinen Freunden.
Jene, die zahlen, werden freigelassen, bis nur noch sechs Leute in seiner Gruppe übrig sind. Es ist das Prinzip brutaler Schuldeneintreiber. Für jene, die nicht zahlen, bleiben zwei Optionen: Entweder sie sterben an den Folgen der Folter, oder sie werden weiterverkauft. Weil Idris Angst hat, seine Familie würde eines Tages nachgeben und ihr Haus in Kassala verkaufen, beginnt er, den Schleppern eine andere Nummer zu sagen. Seine alte Telefonnummer aus dem Sudan. Wenn die Schlepper jetzt anrufen, hebt niemand mehr ab.
„Der Schlepper hat angefangen, es persönlich zu nehmen. Er hat gesagt: ‚Ich foltere euch jetzt seit Monaten, was seid ihr für Spinner, dass ihr nicht zahlen wollt?‘ Es war Winter, sie haben uns nach draußen geführt. Es war so kalt, dass man den Atem vor dem Mund sehen konnte. Sie hatten ein Wassersilo, da haben sie uns reingeschmissen und mit ihren Gewehren über die Wasseroberfläche gefeuert, dass wir untertauchen mussten, bis sie aufgehört haben. Manchmal haben sie uns draußen auf den Steinboden gelegt. Dann haben sie uns mit einem großen Schlauch Wasser ins Gesicht gespritzt, während sie uns mit ihren Stiefeln auf den Boden gedrückt haben.“
Heute im Café in Kassala, morgen unterm Eiffelturm in Paris: So stellte sich Idris seine Flucht vor
Nach sechs Monaten geben ihn die Schlepper auf. Wie einen kranken Hund setzen sie ihn aus, auf dem Markt von Bani Walid. Dort trifft er einen Taxifahrer, der ihm anbietet, ihn nach Tripolis zu bringen. Im Kofferraum des Autos liegen schon fünf andere Menschen. Auf dem Weg wird der Fahrer an einem Checkpoint in der Stadt Tarhuna von libyschen Polizisten gestoppt. Sie verhaften den Fahrer und die Personen im Kofferraum und bringen sie ins Gefängnis. 40 Menschen pferchen sie zusammen in eine Zelle.
„Ich wusste nicht, was schlimmer ist: Wenn man sich die Decken über den Kopf zog, rieselten Läuse hinab wie Staub, dass ich mir den Körper blutig kratzte; wenn nicht, war da dieser Geruch von Fäkalien der Leute, der unerträglich war. Jeden Morgen kamen die ranghohen Polizisten, um die Sklaven abzuholen. Dann drängten sich alle um die Zellentür. Jeder wollte Sklave sein, weil man dann tagsüber auf den Feldern der Offiziere arbeiten konnte. Ich wurde nie gewählt. Ich war zu schwach, sie sagten: ‚Der ist für nichts mehr zu gebrauchen.‘“
„Die Leute hier sagen immer: ‚Die Fische im Mittelmeer sprechen Tigrinha, weil sie so viel Eritreer gegessen haben‘“
Ein Junge aus Khartum, den er im Gefängnis kennenlernt, sorgt dafür, dass Idris Freiheit und ein Taxi nach Tripolis bekommt. Dort trifft er die Mittelsmänner, deren Nummern er sich schon zu Hause in Kassala notiert hatte, in der Hoffnung, dass sie ihn über das Meer bringen würden. Junge Sudanesen wie er, die selbst von Europa träumen und dafür mit den libyschen Schleppern zusammenarbeiten.
Sie geben ihm ein Bett und neue Kleidung. „Das erste Mal nach über einem Jahr, dass ich wie ein Mensch behandelt wurde.“ Und für einen Moment denkt Idris, dass sein Traum von Europa doch noch in Erfüllung geht.
Doch sein Körper versagt, manchmal wird er bewusstlos. Zwei Wochen lang kann er nicht essen. Als er – endlich in Sicherheit – zu sterben droht, bringen ihn seine neuen Freunde zur „Organisation“, so nennt Idris das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das UNHCR. Die Mitarbeiter liefern ihn sofort in ein Krankenhaus ein. Die Ärzte stellen Tuberkulose fest. Als er entlassen wird, spaziert Idris zum ersten Mal ans Meer, an dessen anderem Ufer Europa liegt. Paris und der Eiffelturm.
„Als ich am Meer stand, habe ich den Tod gerochen. Die Leute hier sagen immer: ‚Die Fische im Mittelmeer sprechen Tigrinha, weil sie so viel Eritreer gegessen haben.‘“
Zurück auf Start: Als einer von 1.620 Sudanesen ist Idris freiwillig aus Libyen in seine Heimat zurückgekehrt
Zum ersten Mal nach Monaten ruft Idris seine Eltern an. Keine Schmerzensschreie mehr. „Die Stimme meiner Eltern klang so süß und vertraut, auch nach all der Zeit.“ Sie bitten ihn zurückzukommen, er zögert. „Es war Winter, und da ist das Meer geschlossen“, sagt Idris. Jeder Versuch, es zu überqueren, wäre Selbstmord gewesen. Sein Freund Faisal versucht es dennoch; von seinem Tod erfährt Idris via Facebook.
Statt aufs Boot geht er vier Monate nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zur sudanesischen Botschaft. Sie stellt ihm ein Notfallvisum aus. Von dem Geld des UNHCR kauft er sich ein Ticket zurück. Idris’ Odyssee endet nach 19 Monaten mit einem Stück Papier in der Hand vor dem Schalter von African Airlines in der Abflughalle des Mitiga International Airport in Tripolis. Seit dem Jahr 2015 sind laut Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) über 48.000 Menschen freiwillig aus Libyen in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Circa 1.600 davon in den Sudan.
Home sweet home? Nach der Rückkehr fühlt Idris sich wie ein Versager. Dieses Gefühl lässt ihn manchmal sogar die Gewalt der Schlepper vergessen
November 2019. Zu Hause bei Idris’ Freund in Kassala surrt der Ventilator an der Decke, weht die Mücken weg, die bei Nacht Malaria übertragen und am Tag Denguefieber.
In seine Facebook-Bio hat Idris geschrieben: „Unsere Erinnerungen sind Lektionen fürs Leben“. Auf einem Bild, das Idris kurz nach seiner Rückkehr im Oktober 2018 gepostet hat, sieht man ihn von hinten, wie er auf einem Haufen aus Ziegelsteinen steht, mit den Fingern zeigt er in den Himmel wie ein Fußballspieler beim Torjubel. Die Pose eines Siegers. Der Versuch, das Gefühl zu besiegen. Das Gefühl, das ihm seine Familie nicht nehmen kann und auch nicht die Freunde, die unter das Bild Herzen kommentieren. Ein Gefühl tief in ihm drin und unbesiegt: Du bist ein Versager! Ein Gefühl, sagt Idris, so qualvoll, dass es einen manchmal die Gewalt der Schlepper vergessen lässt.
Hätte er sich auf den Weg gemacht, wenn er von der Gewalt gewusst hätte?
„Wir haben hier im Sudan ein Sprichwort: Glaub kein Gerücht, das du nicht mit eigenen Augen gesehen hast.“
Noch immer sitzen die Jugendlichen in den Straßencafés gleich neben der Hauptstraße in Kassala. Auch Idris, er ist mittlerweile 19, setzt sich manchmal dazu und erzählt seine Geschichte. Wie zum Beweis zeigt er dann seinen Fuß, den er noch immer nicht spürt. Ob sie auf ihn hören? Einer UN-Studie zufolge beschreiben 93 Prozent der Migranten, die von Afrika nach Europa geflohen sind, ihre Flucht als gefährlich. Doch nur zwei Prozent sagen, dass Aufklärung über die Risiken sie an der Reise gehindert hätte.
Nach Libyen gehe derzeit kaum einer mehr, sagt Idris. Aber Bleiben sei keine Option. In Kassala gibt es Gerüchte von neuen Routen: über den Tschad nach Algerien oder Marokko. Und im Sommer, sagt Idris, öffnet sich vielleicht auch wieder das Meer.