Am 13. August 2021 muss Ahmad Sarmast sein Lebenswerk retten. Die Taliban haben nach dem angekündigten Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan bereits ganze Landstriche zurückerobert, die Terrorgruppe steht vor den Toren Kabuls. Und lässt dem Afghanistan National Institute of Music (ANIM) eine Nachricht zukommen: „Wir werden zuerst zu euch kommen.“
Das ANIM ist die berühmteste Musikschule des Landes. Seit 2006, nach dem Ende der ersten Talibanherrschaft, hatte sie der Musiker und Musikwissenschaftler Ahmad Sarmast aufgebaut. Er ist bis heute ihr Direktor. Hier lernen Jungen und Mädchen, die meisten aus Waisenhäusern oder ärmsten Verhältnissen, traditionelle afghanische Musik zu spielen, aber auch lesen, schreiben, rechnen – und demokratische Werte.
Für Instrumentalmusik drohen unter den Taliban Hausarrest, Gewalt, sogar der Tod
Das ANIM ist ein Vorzeigeprojekt, das für seine musikalischen und gesellschaftlichen Errungenschaften weltweit große Anerkennung genießt. Und genau deshalb ist es den Taliban ein Dorn im Auge. Für sie ist Instrumentalmusik ḥarām, also nicht mit dem Islam vereinbar. Es drohen Hausarrest, Inhaftierung, Gewalt. Sogar der Tod.
Als wenige Tage nach der Drohungnachricht der Taliban bewaffnete Kämpfer beim ANIM ankommen, ist die Schule bereits leer. „Ich habe dafür gesorgt, dass zuerst die Mädchen sicher nach Hause kommen. Das war unsere oberste Priorität“, erinnert sich Sarmast. Während die Schüler:innen daheim ausharren – viele rühren aus Angst vor den Taliban ihre Instrumente nicht an, haben sie versteckt oder gar zerstört –, kontaktiert Sarmast zahlreiche Regierungen, Verbände und Organisationen. Er will das ANIM aus Afghanistan herausholen und die Schule – und damit einen Teil der afghanischen Musiktradition – vor dem Untergang retten.
Am 19. August kommt die ersehnte Nachricht: Portugal bietet knapp 300 ANIM-Mitgliedern Asyl: Schüler:innen, Lehrkräften, Mitarbeitenden und ihren Familien. Es scheint, als könnte Ahmad Sarmasts Traum weiterleben. Am 13. Dezember 2021 landet der letzte von fünf ANIM-Flügen in Lissabon. Für die Passagiere beginnt ein neues Leben, fernab von Familie, Freunden und Traditionen, aber in Sicherheit. Wir haben sie von März bis November 2022 begleitet.
Lissabon
Deutschland
Nach Monaten sind viele Schüler:innen und Lehrkräfte unzufrieden mit der Situation in Portugal. Die Hoffnung, dass sich ihre Lage bessern wird, schwindet. Fast die Hälfte der Gruppe verlässt Portugal. Sie reisen – gegen den Willen der Schulleitung – auf eigene Faust nach Frankreich, Schweden oder Deutschland. Dabei ist wegen der komplexen gesetzlichen Regelungen für Geflüchtete in Europa unklar, ob sie dort auch bleiben dürfen.
Braga und Guimarães
Im Juli und August 2022 kann ANIM das Militärkrankenhaus endlich verlassen. Sein neues Zuhause: die Nachbarstädte Braga und Guimarães im Norden Portugals.