Die Bühne ist düster beleuchtet, die Schauspieler liegen am Boden, bewegen sich langsam, begleitet vom Orchester im Hintergrund. Sie mimen die Opfer eines Attentats. Dann knallt es. Das Publikum pfeift anerkennend. Wie authentisch! „Das war Teil des Stücks, oder?“ – „Ja doch!“ Spätestens als jemand das Deckenlicht einschaltet, ist klar: Das war echt. Und es beginnt, was eigentlich auf der Bühne dargestellt werden sollte: Erschrecken, Entsetzen, Angst, Schmerz, Verzweiflung, später Trauer – das Überleben eines Terroranschlags.
Das Stück „Herzschlag. Die Stille nach der Explosion“ hatte am Abend des 11. Dezember 2014 im Französischen Kulturzentrum in Kabul Premiere. Mit rund 200 Leuten war der Saal fast voll. In der letzten Reihe saß ein Jugendlicher mit Sprengstoff am Körper.
Der Anschlag ereignete sich nur wenige Wochen nach den Wahlen, die eigentlich als Meilenstein der Demokratisierung in Afghanistan galten. Doch eine Wirtschaftskrise schwächte das Land, und es gelang nicht, die Taliban in einen Friedens- und Versöhnungsprozess einzubinden.
Was fürchten die Taliban denn so an Azdar? Wohl die Vielstimmigkeit, die Offenheit, die Auseinandersetzung
Die Mitglieder der afghanischen Theatergruppe Azdar, die auf der Bühne standen, hatten schon oft Angst um ihr Leben. Aber an diesem Tag im gut gesicherten Kulturinstitut traf sie die Gewalt unerwartet. „Vor der Show haben wir gescherzt: Der Titel ist provokant, vielleicht bekommen wir Probleme“, erinnert sich Nasir Formuli, der Leiter von Azdar. Aber keiner hat geglaubt, dass sie diese Stille nach der Explosion selbst erleben würden. So politisch war das Stück doch gar nicht! Eher ein Appell, mit dem Wahnsinn aufzuhören.
„Die Explosion passte sehr gut“, erinnert sich Homan Wesa, einer der Darsteller, damals 29 Jahre alt. „Das Publikum dachte, es ist Teil des Stücks, aber für mich war es real.“ Ihm und den anderen sechs jungen Männern, fast alles Kommilitonen vom Schauspielstudium an der Universität von Kabul, war schon klar, dass den Mullahs nicht gefiel, was sie machten. Sie klärten auf, informierten, unterhielten, kritisierten sogar. Sie belegten Workshops bei Ausländern, erarbeiteten Stücke mit ihnen, nahmen an internationalen Theaterfestivals teil. Dabei hätte schon weniger genügt, nämlich überhaupt Kultur zu machen.
Was fürchten die Taliban denn so an ihnen? Möglicherweise die Vielstimmigkeit, die Offenheit, die Auseinandersetzung. Dass Theater ein Publikum erreicht in einem Land, in dem weniger als die Hälfte der Menschen lesen und schreiben kann. „Das Theater in Afghanistan hatte Macht“, erinnert sich der heute 39 Jahre alte Nasir, der inzwischen mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen in Gießen lebt. „Die Leute haben tagelang darüber gesprochen.“
Dass es für sie als Schauspieler in einem unfreien Land größere Ängste gibt als Lampenfieber, hatten sie schon mit „Parwaz“ erlebt, einem Puppenspielprojekt, in dem sich die meisten zusätzlich engagiert hatten, die am Anschlagsabend auf der Bühne standen. Damit reisten sie durchs Land, spielten an Schulen in der Provinz. Ihr Ziel: Kinder mit Theater vertraut zu machen, die noch nie eine Aufführung gesehen hatten. Sie zu unterhalten. Und ihnen nebenbei etwas beizubringen.
Dabei wurden sie unter anderem von UNICEF und dem Goethe-Institut unterstützt, allerdings nicht, was die Sicherheit anging. Einmal hatten sie einen Direktor vor sich, der alle Instrumente verbot. Dann drei Mullahs in der vordersten Reihe, die penibel auf ihre Version der Gottgefälligkeit achteten. Mal mussten sie abbrechen, weil Schüler die Taliban gerufen hatten. Mal waren nach der Show Sprengdrähte über die Fahrbahn gezogen.
„Ich denke, eine Nation ist am Leben, wenn die Kultur in ihr am Leben ist“
Der Selbstmordanschlag, bei dem es etwa 40 Verletzte und drei Tote gab, hat für Azdar alles verändert. Sie konnten kaum noch Theater spielen, weil sich die Leute nicht zu kommen getraut hätten. Sie konnten nicht reisen, weil ihre Namen überall in den Sozialen Medien waren. Den Institutionen war es zu riskant, sie weiter zu unterstützen, schließlich hätte es wieder passieren können. Die Regierung machte ihnen sogar Vorwürfe: Warum habt ihr das gespielt? Sie bekamen Drohanrufe, mussten mehrfach ihre Adressen ändern. Aber vor allem: Das Attentat erschütterte ihre Zuversicht, dass Afghanistan auf einem guten Weg sei. Denn vieles hatte sich unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft bereits getan. Es gab Theatertreffen, Kunstausstellungen, Musikfestivals und vieles mehr. „Ich denke, eine Nation ist am Leben, wenn die Kultur in ihr am Leben ist“, sagt Homan Wesa. „Und wenn man eine Nation zerstören will, braucht man nur den Kultursektor anzugreifen.“
Nach und nach wanderten die Darsteller aus. Ergriffen Chancen, bekamen Stipendien an Hochschulen, temporäre Arbeitsverträge an Theatern, beantragten später Asyl. Haben die Mullahs also gewonnen? „Ich würde sagen, nicht komplett“, sagt Homan Wesa, der in Berlin seinen Master in Schauspielregie gemacht hat und freelanct. „Denn wir sind in Sicherheit, reden darüber und machen einzeln weiter Kulturprojekte zu Afghanistan. Und in Zukunft wird es dort wieder etwas geben.“ Er würde gern Olaf Scholz gemeinsam mit anderen Künstlern im Exil einen Brief schreiben, weil es zu wenig Support gibt. Dabei sei es wichtig, dass die Kulturszene wenigstens im Ausland erhalten bliebe und Geflüchtete später wieder zurückkehren könnten.
Dieser Text ist im fluter Nr. 87 „Spiele” erschienen
Zurückkehren in ein Land, in dem die Kulturszene seit der Machtübernahme der Taliban brachliegt. Dort dürfen Mädchen nur noch bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen, Frauen nicht studieren. Leute werden nachts abgeholt und bleiben Monate im Gefängnis oder tauchen gar nicht mehr auf. Kunst, Theater und Musik sind kaum noch existent.
Auch Nasir würde wieder in Afghanistan arbeiten, sobald das möglich ist. Bis zu seinem nächsten Engagement für ein Stück eines afghanischen Autors am Stadttheater Krefeld wird er am Flughafen arbeiten. „Hier bin ich niemand, es gibt so viele Künstler, die Gesellschaft braucht mich nicht.“ In seinem Heimatland ist das anders.
Titelbild: Haider Yasa/ AP Photo/picture alliance