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„Die Anthroposophie enthält ein autoritäres Potenzial“

Vor gut hundert Jahren wurde Rudolf Steiner mit seinen esoterischen Lehren berühmt, noch heute beeinflussen sie Waldorfschulen und Unternehmen. Der Religionsphilosoph Ansgar Martins erklärt, was er daran kritisch sieht

Rudolf Steiner

fluter.de: Ansgar Martins, Sie waren selbst auf einer Waldorfschule, heute halten Sie Vorträge über die Gefahren der Anthroposophie. Wie kam es dazu?

Ansgar Martins: Mir kamen und kommen die Schulen, die ich besucht habe, nicht gefährlich vor. Ich habe mich aber immer für Religion und Spirituelles interessiert. Und als Waldorfschüler weiß man irgendwie, dass es die Anthroposophie gibt, auf der diese Schulform basiert, auch wenn uns an der Schule nie wirklich erklärt wurde, worum genau es da geht. Also fing ich an, das Werk von Rudolf Steiner zu lesen, der die Anthroposophie begründet hat: eine erstaunliche Aneinanderreihung von bizarren okkulten Ideen. Ich will damit nicht sagen, dass alle Waldorfschulen schlimme Orte sind, meine eigene Zeit da war schön. Aber sie haben ein bestimmtes problematisches Erbe, das kritisch aufgearbeitet werden muss. Leider macht das die Mehrzahl der Schulen nicht. Gerade tun das aber einige Ex-Waldorf-Leute.

Was sind das für Ideen?

Anthroposophie ist eine Form der Esoterik. Sie behauptet, dass im All und in den Menschen übersinnliche Kräfte, Geister und Engel wirksam seien. Steiner präsentiert Anthroposophie als Wissenschaft, die verbindliche Mitteilungen über „höhere Welten“ machen kann. Wenn man diese Kräfte erkenne, könne man sich an ihnen ausrichten und sie sinnvoll für Menschen und Erde anwenden.

Wie werden diese Konzepte in der Praxis umgesetzt?

Zum Beispiel leitet Steiner aus seinen Anschauungen eine bestimmte „organische“ Architektur ab. Ihre dynamischen Formen spiegeln seiner Meinung nach die Formen der ätherischen Welt wider. Oder er behauptet, im 14. Lebensjahr werde der „Astralleib“ geboren und damit die Geschlechtsreife. Erst ab dann erwache bei Kindern die eigene Urteilskraft. Oder er verkündet, die Mistel helfe gegen Krebs, weil sie aus Urzeiten der kosmischen Evolution stamme. Steiner leitet also aus seinem Privatuniversum extrem detaillierte Forderungen für alle Lebensbereiche ab. Die Praxis an anthroposophischen Schulen oder Krankenhäusern unterscheidet sich aber stark, weil nicht jeder an diesen Einrichtungen aus der anthroposophischen Szene kommt und vermutlich kaum jemand alle vierhundert Bücher von Steiner ganz durchgelesen hat.

Am bekanntesten sind die Waldorfschulen. Welche Konzepte kommen dort vor?

Sie sind überall indirekt präsent: zum Beispiel in der Architektur der Schulgebäude. In einem Gebet, das vor Unterrichtsanfang aufgesagt wird. Steiners Entwicklungspsychologie legt fest, in welchem Alter man Bruchrechnung, Geschichte oder Chemie lernen soll. Aber Anthroposophie wird an den Schulen nicht konkret unterrichtet, sie ist eher ein Hintergrundrauschen. Im Unterschied zu den Schülern wird aber von den Lehrkräften erwartet, dass sie sich mit Steiners Welt vertraut machen.

Dornach (Schweiz), Goetheanum (Foto: picture alliance / akg-images)
Das Goetheanum in Dornach in der Schweiz ist das Zentrum der Anthroposophie, hier hat auch die Freie Hochschule für Geisteswissenschaften ihren Sitz. Es ist auch ein gutes Beispiel für Rudolf Steiners Idee einer organischen Architektur (Foto: picture alliance / akg-images)

Es gibt auch Universitäten.

Der Traum der Anthroposophen ist „Wissenschaft“. Schon Steiner, der ja in Philosophie promovierte, wäre gerne ein Wissenschaftler des Übersinnlichen gewesen: Das Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft heißt „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“. Es war ein konsequenter Schritt, dass Anhänger Steiners im Zuge der Alternativbewegung um 1980 auch eigene Universitäten gegründet haben. Manche sind inzwischen staatlich akkreditiert und bieten also gültige BA- und MA-Abschlüsse in unterschiedlichen Disziplinen an. Vieles, was da in der Forschung passiert, hat mit Anthroposophie nichts zu tun, während andere Professor:innen glühende Anthroposoph:innen sind.

Neben den Bildungseinrichtungen gibt es eine Medizin basierend auf Steiners Lehren – und sogar eigene Banken.

Anthroposophische Banken orientieren sich eher an einer bestimmten linken Wirtschaftsethik: Nach Steiners Gesellschaftsutopie der „Sozialen Dreigliederung“ soll das Wirtschaftsleben nach den Idealen der Französischen Revolution „brüderlich“ sein. Dagegen ist die anthroposophische Medizin eine komplexe parawissenschaftliche Vorstellung des menschlichen Körpers und seiner unsichtbaren Teile, denen mit von Steiner vorgegebenen Medikamenten geholfen werden soll. Nach Steiner haben Krankheiten ihren Sinn, sie können zum Beispiel schlechtes Karma aus dem Vorleben sein. So führe etwa fehlendes Interesse an Sternen zu Bindegewebsschwäche, Desinteresse an Musik zu Asthma. Gerade in Bezug auf Behinderung wirkt die Logik, dass wir sie im Vorleben selbst verursacht haben, unfassbar. Auch ungünstige Planetenstellungen von Mars und Venus hätten einen direkten Einfluss auf die Gesundheit der Menschen. Nahezu nichts davon scheint mit der modernen Medizin vereinbar, aber anthroposophische Ärzte müssen im Unterschied zu Heilpraktikern auch tatsächlich Medizin studieren.

„Nach Steiner haben Krankheiten ihren Sinn, sie können zum Beispiel schlechtes Karma aus dem Vorleben sein. So führe etwa Desinteresse an Musik zu Asthma“

Wie kann die Anthroposophie für die Demokratie gefährlich werden?

Viele Anthroposophen haben ein positives Verhältnis zur Demokratie. Sie spielten zum Beispiel eine Rolle bei der Gründung der Partei „Die Grünen“. Aber die Anthroposophie enthält ein autoritäres Potenzial: Wer davon ausgeht, dass es jemanden gibt, der unfehlbares, hellseherisches Wissen besitzt, in dem Fall Rudolf Steiner, ist leichter anfällig dafür, auch auf andere autoritäre Führungsansprüche hereinzufallen. Außerdem hat Steiner antisemitische, rassistische und verschwörungstheoretische Hetze weiterverbreitet: Weiße Europäer seien höher entwickelt als andere Völker, dunkle „okkulte Logen“ aus England würden versuchen, die Welt zu beherrschen. Teile seiner Anhänger glauben daran bis heute und laufen jeder rechten Mode hinterher.

Inwiefern?

Steiner beschreibt in seinen Vorträgen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs eine politische Apokalypse: Der deutsche Volksgeist soll die Welt retten, aber es gibt böse Kräfte, die sich hinter England und Amerika verstecken und diesen Plan durch eine böse Weltherrschaft durchkreuzen wollen. Dieses Schema lässt sich in einer globalen Welt auf so ziemlich alles anwenden. Zum Beispiel auf die Corona-Pandemie, dann sind Bill Gates und seine Impfkampagne die Werkzeuge der angloamerikanischen Finsternis, die „Querdenker“ deutsche Freiheitskämpfer.

Eurythmie-Vorführung im Goetheanum (Foto: picture alliance / akg-images)
Harmlos, oder? Eine Eurythmie-Vorführung im Goetheanum (Foto: picture alliance / akg-images)

Wir sind inmitten einer Wirtschaftskrise, ähnlich wie vor hundert Jahren. Damals wandten sich viele der Esoterik zu. Hat Steiner auch jetzt wieder Hochkonjunktur?

Ob unsere Zeit eine Wiederholung der Zwanzigerjahre ist, muss sich erst noch zeigen. Esoterik war nie weg, sie verändert sich nur und erlebt verschiedene Wellen, in Krisenzeiten suchen Menschen nun mal nach Orientierung. Was in den letzten Jahren neu ist, ist die gestiegene kritische Aufmerksamkeit für Esoterik in der Öffentlichkeit.

Das ewige Schimpfen und Verlachen derer, die die Waldorfpädagogik schätzen, verhärtet die Fronten aber auch. Wie geht die Gesellschaft damit um?

Ich halte Streit nicht zwingend für schlecht – es geht ja um was. Aber natürlich läuft die Debatte über Anthroposophie genauso schräg ab wie viele öffentliche Debatten. Es wird immer wieder Unsinn über Anthroposophie behauptet, viele Artikel zum Thema sind oberflächlich recherchiert. Während Corona wurden unter anderem die Anthroposophen zu Sündenböcken für Impfverweigerung stilisiert. Mit fatalen Folgen: Sie ziehen sich jetzt in eine Opferrolle zurück und neigen immer mehr zu verschwörungstheoretischem Geraune über die bösen Methoden der Kritiker. Wenn Anthroposophen ernst genommen werden wollen, müssen sie sich aber der Kritik stellen. An dem Konflikt führt, wie gesagt, kein Weg vorbei.

„Wer davon ausgeht, dass es jemanden mit unfehlbarem Wissen gibt, ist leichter anfällig dafür, auch auf andere autoritäre Führungsansprüche hereinzufallen“

Ab wann sind von Steiner propagierte, harmlos klingende Glaubensdinge wie Glückssocken beim Bewerbungsgespräch oder ein mit Kuhdung gefülltes Horn unter einem Acker, wie es in der anthroposophisch geprägten „biologisch-dynamischen Landwirtschaft“ üblich ist, keine Privatsache mehr?

Es gibt die Freiheit, an Unsinn zu glauben. Wir alle tun das, und Rituale und Magie können auch einfach Spaß machen. Schwierig wird es dann, wenn ich glaube, meine Glückssocken sind wirklich magisch, und nicht zum Arzt gehe, weil sie mich beschützen. Oder, um im Bild zu bleiben, wenn ich versuche, auch meine Nachbarn davon zu überzeugen, und zwingen will, sie anzuziehen.

Ist also Aberglaube, ob anthroposophisch oder nicht, das Problem? Also die Glückssocken, dreimal auf Holz klopfen und die Vermeidung der Zahl 13?

Ja und nein. Esoterik lebt von der Fantasie, von assoziativem Denken und einer Mindmap-artigen Weise, Schlüsse zu ziehen. Ganz ohne diese Kraft der Fantasie könnte niemand denken, sie darf auch in der Wissenschaft nicht fehlen. Aber wer überall nur noch geheime Bezüge und Codes entdeckt, hat die Fähigkeit zur kritischen Reflexion verloren.

Ansgar Martins wurde in Religionsphilosophie promoviert über die Schnittstelle von Judentum, Marxismus und Esoterik. Aktuell ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Portrait: privat, Titelbild: Georgios Kefalas/picture alliance/KEYSTONE – Hulton Archive/Getty Images

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