Worum geht’s?
Zeynep (Merve Aksoy) studiert eigentlich in Berlin. Nachdem sie aber absichtlich einen Autounfall verursacht und dabei ihren Freund verletzt haben soll, reist sie zu ihren Eltern. Die leben im Osten der Türkei auf dem Land, in der Grenzregion zwischen Armenien, Iran und Aserbaidschan. In der kargen Landschaft, am Fuße des schneebedeckten Berges Ararat, prallen zwei Generationen und ihre unterschiedlichen Lebensauffassungen aufeinander. Zeynep erzählt nicht näher, was passiert ist, überhaupt hat sich die Familie nicht viel zu sagen. Während Zeyneps Mutter Fatma (Funda Rosenland) in den Sachen ihrer Tochter wühlt, um herauszufinden, was mit ihr los ist, fragt ihr Vater Hasan (Rasim Jafarov) sie über ihre Beziehung und Partys in Berlin aus. Die unausgesprochenen Konflikte und Geheimnisse schwellen nach und nach an. Zeynep wird immer aggressiver, auch körperlich, gegen ihren Vater, gegen den Mann, mit dem ihre Mutter eine Affäre hat, und gegen sich selbst.
Worum geht’s eigentlich?
Um Selbstbestimmung – Zeynep muss sich vor ihren Eltern für ihr Leben in Deutschland rechtfertigen –, um Gewalt und Wut. „Ararat“ deutet vieles nur an, zum Beispiel, dass Zeyneps Freund sie vergewaltigt hat, bevor sie den Unfall gebaut hat und abgehauen ist. Zeynep erträgt die Doppelmoral ihrer Familie nicht mehr, einmal geht sie auf Ali (Aziz Capkurt) los, der für ihren Vater arbeitet und eine Affäre mit ihrer Mutter hat. Zeynep schlägt und begrapscht ihn, er bedroht sie und packt sie an der Kehle. Während Zeyneps Mutter zunächst versucht, ihre Tochter zu verstehen, hat ihr Vater Hasan eigene Probleme. Er ahnt, dass Ali ihn in der Firma bestiehlt, und will das heruntergekommene Bergwerk, das er besitzt, verkaufen. Die Familie ist einst aus der Türkei nach Deutschland und dann wieder zurück in die Türkei gezogen. Hasan zerbricht an der Einsicht, dass das, was er sich als Paradies in der alten Heimat erhofft hatte, nicht eingetreten ist. Nun will er schnellstens weg. Dazu kommt ein Konflikt, der die Familie beschäftigt. Im Fernsehen sieht man immer wieder Bilder von kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region Bergkarabach, wo gerade wieder ein Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan gescheitert ist. Hasan, der aserbaidschanische Wurzeln hat, verfolgt die Nachrichten.
Wie wird’s erzählt?
Statt auf Worte setzt der Regisseur und Autor Engin Kundağ in seinem ersten Langfilm ganz auf Bilder. Kundağ kennt die Landschaft Ostanatoliens gut, seine Eltern sind dort aufgewachsen. So karg wie die Landschaft sind auch die Gespräche von Zeynep und ihren Eltern am Abendbrottisch. „Ararat“ ist ein leiser Film, der sogar auf Musik verzichtet und damit einen sehr nüchternen Blick auf die Figuren erlaubt. Zeynep etwa fühlt sich fehl am Platz, weiß aber nicht, wohin sie sonst gehen könnte. So wie die Protagonist*innen in „Ararat“ bleiben auch die Zuschauer*innen im Unklaren und ohne Anker. Eine Besonderheit ist die Sprache im Film. Zeynep spricht ihre Eltern immer wieder auf Deutsch an. Ihr Vater spricht altaserbaidschanisches Türkisch, das man unter anderem in der Gegend rund um den Ararat spricht, ihre Mutter dagegen die türkische „Hochsprache“.
Good Job!
Die bedrückende Stimmung in Zeyneps Elternhaus ist in jeder Einstellung spürbar. Das Kammerspiel in den engen Räumen steht in direktem Kontrast zur weiten Gegend um den majestätisch aufragenden Ararat. Regie und Kamera (Mikołaj Syguda) erzählen das in beeindruckenden, atmosphärischen Bildern.
Gut zu wissen
Regisseur und Autor Engin Kundağ hat einen Cameo-Auftritt als Zeyneps Freund, der einmal vor ihrem Elternhaus auftaucht und sie zur Rede stellen will.
Heimlicher Star
Der Ararat, der immer wieder eingeblendet ist. Der ruhende Vulkan ist der höchste Berg der Türkei, in der Bibel strandete dort Noahs Arche. Der Ararat liegt zwar heute auf dem Staatsgebiet der Türkei, bis zum Völkermord an den Armeniern 1915 und 1916 war die Region aber geprägt durch ihre armenische Bevölkerung. Noch heute ist der Ararat das Nationalsymbol Armeniens und auch Teil des armenischen Wappens. Der Ararat im Hintergrund ist eine Art Mahnmal, das an die verdrängte – familiäre und historische – Last erinnert. Engin Kundağ (der vor gut zehn Jahren auch schon einen Kurzfilm namens „Ararat“ gedreht hat) erzählte am Rande der Berlinale, dass er als Kind jedes Jahr zu Besuch in der Gegend war und dort gespielt hat, mit Blick auf den Ararat, der für ihn etwas Bedrohliches und Unerreichbares hatte. „Der Ararat war ganz weit weg und doch so nah“, sagt Kundağ. „Diese Erfahrung bleibt haften, wahrscheinlich komme ich deswegen nicht weg von diesem Berg.“
„Ararat“ hatte auf der diesjährigen Berlinale Premiere und läuft ab dem 7. Dezember in den deutschen Kinos.
Titelbild: Mikołaj Syguda