Das Heft – Nr. 81

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Der Traum vom besseren Leben

Vor 60 Jahren wurde mit der Türkei das sogenannte Anwerbeabkommen geschlossen. Es waren auch Frauen unter den fast 900.000 Menschen, die damals zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Sie hatten es oft doppelt schwer, in der neuen Heimat aufzusteigen

Heimaturlaub

Yeter Kılıç: 

„Wie eine lebende Leiche“

Yeter Kılıç’ Vorname heißt auf Türkisch „Es reicht“. Den habe sie bekommen, weil sie das zehnte Kind war – und es ihren Eltern nun eben reichte. Kılıç’ Familie stammt aus Anatolien. Sie waren arme Bauern, ihr Vater musste zusätz­lich ab und zu in den Nachbardörfern als Friseur arbeiten und bekam dafür am Jahresende einen Eimer Getreide.

Trotz guter Noten verließ Yeter Kılıç nach der fünften Klasse die Schule, als Frau war für sie eine Rolle im Haushalt vorgesehen. „So wurde mir meine Zukunft genommen“, sagt Yeter Kılıç heute. Die Zukunft, die suchte sie dann in Al­manya, in Deutschland. 1972, kurz nach der Geburt ihrer ersten Tochter, warben deutsche Unternehmen in der Türkei um weibliche Arbeitskräfte. Um endlich der Armut zu ent­kommen, bewarb sich Yeter Kılıç.

So kam sie als sogenannte Gastarbeiterin nach Deutsch­land – einer von etwa 870.000 Menschen, die in den Jahren 1961 bis 1973 im Rahmen des Anwerbeabkommens aus der Türkei nach Deutschland zogen. Die Bauerntochter aus Ana­tolien war plötzlich eine Arbeiterin in einer Fischfabrik in Bremerhaven. Um ihre kleine Tochter kümmerte sich die Großmutter in der Türkei, auch ihr Mann blieb zunächst dort.

„Mein Kind zu verlassen fiel mir so schwer, dass ich mich wie eine lebende Leiche fühlte“, erinnert sich Yeter Kılıç, die heute 71 Jahre alt ist. „Ich hatte aber keine andere Wahl. Ich musste arbeiten gehen, um Essen zu haben und um nicht ab­hängig von anderen zu sein.“

Als Frau hoffte Yeter Kılıç sowohl der Armut als auch einem streng patriarchalischen System zu entkommen. Doch das Leben in Almanya gestaltete sich auch nicht so rosig: Bereits der erste Arbeitstag in der Fischkonservenfabrik war schrecklich, erzählt sie. Die junge Mutter vermisste ihre Tochter, und neben dem Trennungsschmerz tat ihr auch die Brust weh, da immer wieder Milch einschoss – ohne dass sie ein Baby hätte stillen können. Erst drei Jahre später konnte sie ihre Tochter endlich nach Deutschland holen. Bald kam auch ihr Mann nach, der aber schon nach einigen Jahren in Deutschland chronisch erkrankte und der Familie nicht helfen konnte, sondern im Gegenteil selbst Hilfe brauchte.

Dabei verdiente Kılıç als Frau noch schlechter als die männlichen „Gastarbeiter“. Wie viele andere Türkinnen stockte sie den niedrigen Stundenlohn durch Überstunden und Akkordarbeit auf. Manchmal kam sie so auf bis zu 70 Arbeitsstunden in der Woche. Trotz dieser harten Arbeit blieb die Familie Kılıç arm. Bis in die 1990er­Jahre lebte sie in Wohnungen, die nie mehr als 40 Quadratmeter groß waren, ohne warmes Wasser und Badezimmer, eingerichtet mit Möbeln vom Sperrmüll.

Ülkü Kılıç-Walter:

Der Geruch der Armut

„Armut war für mich auch der Geruch in den Kleiderkammern des Deutschen Roten Kreuzes, wo wir regelmäßig Schlange standen und am Eingang Anweisungen erhielten, wie viele Kleidungsstücke wir pro Person aussuchen durften“, sagt Yeter Kılıç’ Tochter Ülkü. Dazu kam der Fischgestank vom Krabbenpulen – ein Nebenerwerb, dem fast alle Kinder in der Nachbarschaft zusammen mit ihren Müttern nachgingen. Dabei wurden die Krabben in großen Säcken angeliefert, anschließend auf einer Folie auf dem Boden im Wohnzimmer ausgebreitet und dort geschält.

Für Yeter Kılıç war immer klar, dass ihre Kinder stu­dieren sollten. „Meine Mutter sah dazu keine Alternative. Es hieß immer: Entweder studierst du, oder du wirst so wie ich im Fischereihafen landen“, erzählt Ülkü. „Abitur zu machen und außerhalb von Bremerhaven zu studieren war mein Schlüssel zur Freiheit.“

Anders als vielen anderen Arbeiterkindern fiel Ülkü das Lernen relativ leicht, aber auch sie hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die den deutschen Schülerinnen fremd waren: So hatte sie niemanden, der ihr den Unterrichtsstoff erklärte, wenn sie mal etwas nicht verstand. Sie hatte kein eigenes Zimmer, in dem sie ungestört lernen konnte. Und sie kannte keine einzige Per­son, die studiert hatte – also keine Vorbilder und Ansprechpersonen. „Ich kannte weder den Begriff Stipendium, noch wusste ich im Alltag, wie ich es kompensieren sollte, wenn ich mal wieder meine ganze Energie dafür aufbrauchte, meine Unsicherheit zu verbergen.“

Trotz der vielen Hemmnisse schaffte Ülkü das Abitur und studierte anschließend. Heute ist sie Juristin und arbei­tet für eine Behörde in Bremen. Ihre Mutter, die einst in der Fischfabrik stand, ist nach einer schweren Erkrankung in die Frührente gegangen. Für viele Menschen aus der Türkei ist allerdings auch das Alter schwer: 44,5 Prozent der türkischen Rentnerinnen und Rentner sind armutsgefährdet. Auch Yeter Kılıç hat weiterhin wenig Geld, aber sie lebt bescheiden und ist zufrieden. Sie hat viele Freundinnen und ist in einem alevitischen Verein in Bremerhaven aktiv. Jedes Jahr fährt sie für mehrere Monate in ihr Heimatdorf. Sie liebt es, dort mit Freunden und Bekannten Zeit zu verbringen und bei der Obsternte zu helfen.

Gastarbeiterfamilie

Der Fotograf Henning Christoph hat das Leben türkischer Familien in „Almanya“ porträtiert. Auf dem Titelbild sieht man die Abfahrt in den Heimaturlaub

Nuray Özer:

„Duzen Sie hier jeden?“

Bis heute lebt ein Drittel der unter 18­-Jährigen mit Migrationshintergrund in Familien, die von Armut bedroht sind – unter Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund sind es 13,1 Prozent. Die Eltern der Diplompädagogin Nuray Özer wohnten in Istanbul, bevor ihre Mutter 1968, und kurze Zeit später auch ihr Vater, nach Goslar im Harz zogen – um ein finanziell abgesichertes und damit auch freieres Leben zu führen.

Auch Özers Familie wurde auseinandergerissen. Nuray und ihre Schwester blieben bei der Großmutter in der Tür­kei. Die Familie sah das als vorübergehendes Opfer an, um allen ein besseres Leben zu ermöglichen. Vier Jahre lebten die Kinder ohne ihre Eltern, viel länger als geplant. In dieser Zeit litten sie unter der Trennung und unter der au­toritären Großmutter.

Nuray Özers Vater war relativ gut ausgebildet und hatte in Istanbul als Maschinentechniker in einer Textilfabrik ge­arbeitet. Aber in Deutschland wurden seine Abschlüsse nicht anerkannt. In den folgenden Jahren bemühte er sich im­mer wieder erfolglos um
die Anerkennung seiner Qualifikation und später auch um eine Weiterbil­dung. Doch der deutsche Staat unterstützte damals weder Sprachkurse noch andere Formen der Weiterbildung. Man ging ja schließlich davon aus, dass die „Gastarbeiter“ nach erledigter Arbeit wieder in die Türkei zurückkehren würden.

Sowohl als Arbeiter als auch als Türke habe sich ihr Vater immerzu wegducken müssen, erzählt Nuray Özer. Er habe schlechter verdient als seine deutschen Arbeitskollegen, der Schutz bei der Arbeit sei schlecht gewesen. Irgendwann verlor ihr Vater bei einem Arbeitsunfall einen Daumen, ohne dass er dafür entschädigt wurde.

Harte Arbeit, schlechter Verdienst und dazu die Aus­grenzung als Ausländerin: So zerschlugen sich die Hoffnungen ihrer Mutter auf ein selbstbestimmtes Leben. Nuray Özer erinnert sich, dass ihre Mutter in Läden immer wieder geduzt wurde, während man deutsche Kunden höflich mit Sie an­ sprach. Einmal wurde sie darüber so wütend, dass sie sich in einem Supermarkt mit einer Kassiererin stritt. „Mich hat das so aufgeregt. ‚Kennen Sie meine Mutter?‘, fragte ich die Ver­käuferin. ‚Nein? Warum duzen Sie sie dann? Duzen Sie hier jeden?‘“, erzählt sie und schüttelt noch heute empört den Kopf.

Wie viele „Gastarbeiter“­-Kinder hatten Nuray Özer und ihre Schwester Probleme in der Schule. Das lag aber nicht daran, dass sie nicht intelligent genug waren oder Bildung in ihrer Familie nicht wertgeschätzt wurde. Im Gegenteil: Ihre Schwester übersprang später sogar eine Schulklasse, nachdem sie noch in der ersten Klasse auf eine Sonderschule geschickt worden war, weil sie kaum Deutsch sprach. Bis heute ist es so, dass Kinder mit Migrationshintergrund selbst bei guten Noten oft schlechtere Schulempfehlungen bekommen und Einwan­derern unterstellt wird, dass sie sich nicht genügend um die Bildung ihrer Kinder kümmern würden. Im Rahmen eines Forschungsprojekts kam das Gegenteil heraus: Über 70 Pro­zent der Eltern mit Migrationshintergrund gaben an, ihre Kinder „immer“ oder „häufig“ bei den Hausauf­gaben zu unterstützen. Und 96 Prozent der Eltern stimmten der Aussage „Bildung ist der wichtigste Schlüssel für ein gelungenes Leben“ zu.

Oft ist es eher das schulische Umfeld, das einen Aufstieg verhindert. Nuray Özer wurde als Kind ge­mobbt – auf dem Weg zur Schule und während des Unterrichts. Andere Kinder verspotteten ihre ärmliche Kleidung, ihre Hautfarbe, ihre Art zu sprechen. Die Lehrer griffen nicht ein. Einmal war es so schlimm, dass sie mitten im Unterricht aufsprang und ihre Mitschüler anbrüllte und sie als Schweine bezeichne­te. Mit der Zeit lernte sie, sich zu behaupten, und wurde sogar Schulsprecherin. Parallel zu ihrem Deutsch wurden auch die Noten besser, sodass sie es zur Freu­de ihrer Eltern an die Uni schaffte. Sie kann sich in­ zwischen gut ausdrücken und tritt selbstbewusst auf.

Rassismus im Alltag erlebt sie allerdings immer noch. So hat sie bis heute Schwierigkeiten, Jobs und Wohnungen zu finden. Einmal sei ihr bei einer Woh­nungsbesichtigung mit ihrem Mann die Tür vor der Nase zugeschlagen worden – mit den Worten: „Wir nehmen hier keine Ausländer!“ Tatsächlich zeigen Studien, dass Menschen, die beispielsweise Ayşe oder Hakan heißen, bei Wohnungsbewerbungen deutlich seltener Erfolg haben. Aus Daten des Statistischen Bundesamtes geht hervor, dass selbst ein guter Schulabschluss Menschen mit Migrationserfahrung nicht unbedingt vor Armut schützt: Die Armutsgefährdungsquote bleibt selbst dann hoch (20,4 Prozent), wenn sie Abitur haben. Damit liegt sie sogar deutlich höher als bei Hauptschulabsolventen ohne Migrationshintergrund (16,2 Prozent).

Efsun Kızılay:

Die dritte Generation

Im Fall der türkischen Migrantinnen und Migranten sind die Probleme bis in die dritte Generation spürbar: wenig Anerkennung und wenige Aufstiegschancen. Efsun Kızılay ist die En­kelin eines kurdischen „Gastarbeiters“, der 1970 nach Deutschland kam. Auch ihre Familiengeschichte ist von langen Trennungen, nicht anerkannten Schulabschlüssen und harter Arbeit für wenig Geld bestimmt. Kızılay ist in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Andere Kinder belei­digten sie rassistisch, auch bei ihr griffen die Lehrkräfte nicht ein. Einige gaben ihr sogar ungerechtfertigt schlechte Noten. Auf dem Schulgelände wurde ihr verboten, Türkisch zu spre­chen. „Wenn mir jemand eine Million Euro geben würde, ich würde nicht in diese Schule zurückgehen“, sagt sie heute.

In ihrer Familie wurde viel gelesen. Neben ihrem Wunsch, die Welt gerechter zu machen, half ihr das dabei, einen Mas­terabschluss und einen guten Job als Politikwissenschaftlerin zu erreichen. Damit ist sie selbst in der dritten Generation noch eine Ausnahme. Ihre Eltern haben die Diplome ihrer beiden Kinder aufgehängt und ihnen gesagt: „Egal wie schwie­rig es war, ihr seid diejenigen, für die wir es gemacht haben. Für euch hat es sich gelohnt.“

Fotos: Henning Christoph/ullstein bild

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