Jörg Ulrich Stoellger & Galina
Die erste Nachricht war vom 1. April:
Hey. I am Galina, Artist from Ukraine. My friend gave me your contact.
Da habe er bereits ein paar Wochen im Ankunftszentrum für geflüchtete Ukrainer:innen in Berlin gearbeitet, erzählt Ulli. Schon sieben Personen waren Gäste in der Wohnung, die er mit seiner 19-jährigen Tochter teilt.
Good day. Are you in Berlin?
Ulli scrollt auf seinem Handy, die Unterarme auf den Tisch gestützt, die Zigarette qualmt unbeachtet zwischen seinen Fingern. Eigentlich wollte eine Freundin von Galina bei ihm wohnen, sie sei aber zurück in die Ukraine, „mal wieder ohne Absage“. Am 2. April stand Galina vor seiner Tür, und er fragte, ob er ihr mit dem Gepäck helfen könne.
„Dann hat sie sich irgendwie im Zimmer eingerichtet, etwas chaotisch, aber der Geist ist ja auch chaotisch.“ Funktioniert habe ihr Zusammenleben, weil sie sich entschlossen haben: Sie umschifft das, was sie zu den täglichen Nachrichten, die auf ihrem Handy einlaufen, eigentlich zu sagen hätte. Und er habe ihre Launen ertragen. Dafür hat er Verständnis: „Galina und ich sind ja sozusagen durch einen Herrn Putin in diese Situation gezwungen worden.“
Gerade ist Galina in Kharkiv, ihren Hund abholen. Bevor sie gegangen ist, habe sie Ulli gefragt, ob er glaube, dass sie zurückkäme: „Wenn es nicht so wäre, hätte ich jetzt ihre Sachen schon in den Keller geräumt.“
Anfang Mai dann eine Nachricht aus Kharkiv: ein Foto von ihrem Hund.
Ulli setzt einen Daumen hoch und ein Smiley darunter.
Paul Brody und Carol Scherer & Svitlana, Maryna, Iryna, Anastasiia
„Wir sind am Bahnsteig von der einen und der anderen Seite aufeinander zugelaufen, um sie nicht zu verpassen“, erzählt Carol. Es war der 11. März und hektisch am Hauptbahnhof in Berlin, als der EC378 eintrifft. „Aber es war nicht schwer, sie zu finden“, sagt Paul: „Zwei Moms, zwei Katzen, zwei Töchter mit Katzen-Haarreifen.“
Sie haben für uns gekocht, als seien sie unsere Großeltern, sagt Svitlana, und Carol nickt, das Gesicht in die Hand gelegt, und schaut zu ihrem Mann. „Yeah, wir sind ziemlich schnell eine Familie geworden.“ Der Kontakt kam über eine befreundete Sängerin zustande. Carol und Paul hatten Platz frei in ihrer Wohnung, seitdem die Kinder ausgezogen waren. Am Kühlschrank hängt jetzt ein Zettel mit ukrainischen und englischen Vokabeln: Gurke, lecker, Entschuldigung.
Svitlana und Marynas Männer sind Brüder. Sie haben schon davor in der Nachbarschaft gewohnt, in einer Drei- und Vierzimmerwohnung. Svitlana war Lehrerin, Maryna arbeitet in der Werbung. Als der Krieg ausbrach, flohen sie gemeinsam mit den 14 und 17 Jahre alten Töchtern. Ob sie nicht ein größeres Zimmer haben wollen, fragten Carol und Paul, aber die Cousinen sagten Nein. Endlich konnten sie in einem Stockbett übereinander schlafen.
Am ersten Tag setzte sich Carol auf die Bettkante. Anastasiia, die ältere der beiden, erzählte, wie sie am 24. Februar mit dem Geräusch von Bomben aufgewacht sei. Zwei Wochen später fragte Paul, wie sie geschlafen habe. „Gut“, sagte die 17-Jährige: „Ich bin aufgewacht, und die Vögel haben gezwitschert.“ Dieser eine Satz, das sei ziemlich bedeutungsvoll, tief und schön gewesen, sagt Paul. Er zückt sein Handy und macht ein Foto, und Anastasiia zeigt ein Peace-Zeichen in die Kamera.
Seit kurzem wohnt die Familie in einer anderen Wohnung in der Nachbarschaft. Svitlana hat einen Job in einer Schule. Sie wohnen immer noch so nahe, dass sie manchmal Paul und Carol zufällig auf der Straße trifft.
Es wäre nett, wenn wir uns mindestens einmal die Woche sehen, sagt Paul.
Ja, ja, ja. Okay. Gut. Kommt morgen vorbei. Wir kochen Borschtsch, sagt Svitlana.
Und wir haben immer noch ein paar Flaschen Champagner zu trinken.
Coco, Franziska, Felix, Berit & Ismael und Amine
Franziska und ihre Mitbewohner:innen sitzen auf einer hellen Couch, tippen in ihre Smartphones. Ismael schaltet sich aus der Schweiz dazu.
„Hey, wie geht’s euch?“
Das Bild wackelt. Metallstockbetten in einem dunklen Raum. Ismael erscheint mit einem schiefen Grinsen vor der Kamera.
„Gut“, sagen Franziska, Felix und Berit und lehnen sich nach vorne.
„Wo bist du? Oh wow, es gibt keine Fenster?“
„Aber man kann rausgehen.“
„Ist dieser Ort in Zürich?“
„Nein, an der Grenze zu Deutschland.“
„Du bist wieder umgezogen?“
„Ich wurde umgezogen. Wenn du dich registrieren willst, musst du hierher gehen.“
„Weißt du, wie der Ort heißt?
„Nein.“
Ismael kommt ganz schön rum“, sagt Felix, einer der WG-Mitbewohner in Berlin-Schöneberg.
Als sie am 10. März per WhatsApp beschlossen haben, ein Zimmer für Geflüchtete aus der Ukraine freizuräumen, waren sie selbst verstreut: Franziska gerade in Kolumbien, Felix und Berit in Portugal, und Coco war dabei, ihr persönliches Leben „umzuarrangieren“. Sie arbeitet für eine Initiative, die Geflüchteten Wohnraum vermittelt. Am Ende einer langen Schicht, um ein Uhr nachts, haben nur noch Ismael und Amine, sein Zimmernachbar aus der Ukraine, auf einen Schlafplatz gewartet, erinnert sich Coco: „Und ich habe gesagt, okay, wir haben ein Zimmer. Wir können euch mit nach Hause nehmen. So ist es dann gelaufen.“
Einen Monat hat Ismael in einem freien Zimmer in der WG gewohnt. „Wir sind jetzt wie Freunde“, sagt Ismael. Felix lacht: „Freunde und Eltern.“ Das erste Mal die Waschmaschine bedienen, vegane Burger, das erste WG-Plenum. In so einem Treffen über Gefühle sprechen, auch das war neu, sagt Ismael.
Eine Perspektive sucht er jetzt weiter im Süden. Für ihn als Studierenden aus Marokko sei es nicht so leicht wie für Ukrainer:innen: „mit der Arbeit und so Zeug“. Die drei Mitbewohner:innen auf der Couch nicken. Mittlerweile seien sie zu weit weg, um zu helfen.
Bist du jetzt Veganer?, fragt sie.
Ismael lacht. Nein, aber er wolle gerne wieder in einer WG wohnen. Vielleicht in Freiburg.
Yana & Artur Filatova
Es ist der 24. Februar, kurz vor sechs Uhr, als Yana in Henningsdorf vor dem Joggen auf ihr Handy schaut. Als hätte sie es innerlich gewusst. „In der Ukraine ist Krieg“, habe sie ihrem Mann gesagt und ihren kleinen Bruder angerufen, so erzählt es die 31-Jährige am Küchentisch. Im Hintergrund hängt eine Weltkarte. 2013 ist sie auf der Weltkarte weiter Richtung Westen gezogen, hat ein Praktikum gemacht, hat geheiratet, ist geblieben. Ihr kleiner Bruder war noch nie im Ausland.
In Poltava ist es eine Stunde später, 6.45 Uhr, als Artur ans Handy geht. Eigentlich hatte er an diesem Tag Termine. Aber statt eines Arztbesuches nur lange Schlangen vor Geldautomaten und Apotheken. Was ihm aufgefallen sei an diesem Tag: dass sie unter Freunden noch nie so viele Witze gemacht haben.
Die Schrauben und Metallplatten, die er seit dem Unfall im September in seinem Rücken hat, retten ihn. Er muss nicht wie alle anderen Männer zwischen 18 und 30 zur Armee.
„Wie lange haben wir gewartet?“, fragt Yana. Artur zählt mit den Händen die Tage, räuspert sich. Drei Wochen nach Kriegsbeginn habe sie ihrem kleinen Bruder ein Ticket gebucht. „Ich habe gesagt: ‚Du musst nicht viel einpacken, wir haben ja die gleiche Klamottengröße.‘“
Das Wichtigste, was Artur mit auf die Reise nimmt: sein Handy. Darauf: Tiktok, Instagram, die Freunde. Ein paar Kumpels, auch schon über 18 Jahre, seien sofort aufs Land gefahren: „Nicht alle wollen zum Militär“, sagt Yana.
Sie haben nicht mehr zusammengewohnt, seit er zehn Jahre alt war. Damals waren sie oft mit Yanas Freunden im Kino. Letzte Woche seien sie im Kino gewesen, erzählt Artur. Danach habe er gefragt: Wie war der Film? Das gehöre auch dazu, plötzlich in einem fremden Land zu sein: außer seiner Schwester fast niemanden zu verstehen.
Felix Thiemer & Halyna und Luba
Eigentlich hat Felix überhaupt keine Zeit. Hastig schließt er die Wohnungstür gegenüber seiner Kreuzberger Wohnung auf. Dahinter wird gerade Staub gesaugt.
Luba hält Felix das Handy entgegen.
Gde?, fragt Felix. Wo?
Ah, um 13 Uhr also soll dein Sohn abgeholt werden?
Der selbstständige Redakteur spricht ein paar Brocken Russisch und macht gerade einen Ukrainischkurs. Wenn sie nicht in der Schule sind, übersetzen die Töchter von Luba und Halyna. Über einen Post kam sie zu Felix. Freunde nahmen Luba an der polnischen Grenze mit. Beide kamen Anfang März in die Wohnung mit den nackten Wänden. Ehrenamtliche Helfer:innen hatten sie innerhalb von zehn Tagen eingerichtet – provisorisch mit Möbeln von Ebay-Kleinanzeigen und Ikea-Bettwäsche.
In Odessa war Luba Anwältin. Halyna kommt aus Iwano-Frankiwsk und hat in einer Fabrik gearbeitet, die Kleidung herstellt. Harte Arbeit, alles musste schnell gehen. In Berlin habe sie überrascht, dass sich alles so langsam abspielt. Und dass die Beamtin bei der Registrierung sagte, dass es dauern wird. Wenn es um den Krieg geht, spricht ihr Gastgeber Felix nicht mehr von Monaten, eher von Jahren.
Chai?, fragt Halyna.
Sie stellt eine Tasse Tee auf den Schreibtisch, auf dem schon selbst gebackene Plätzchen stehen. Nur ein Hausflur trennt die beiden Wohnungen.
„Man ist schnell Teil einer Familiensituation“, sagt Felix. In der Ukraine denke man, dass die Menschen in Deutschland böse seien, sagt Luba. „Wegen der Vergangenheit.“ Überrascht habe sie, dass fremde Menschen ihr helfen, den Weg zu finden.