fluter.de: Welche Motivation steht hinter dem Krieg, der gerade ukrainische Städte und Kulturgüter zerstört und Millionen Menschen gefährdet?
Nikolaus von Twickel: Putins Motivation lässt sich mit einem Sprichwort zusammenfassen, das es sowohl im Russischen als auch im Deutschen gibt: „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Aus Putins Sicht ist die Westorientierung der Ukraine unter dem jetzt zweiten Post-Maidan-Präsidenten Selenskyj ein „Schrecken ohne Ende“. Die Ukraine entgleitet Putin. Er will den Menschen weismachen, dass das nur passiert, weil die Führung in Kiew von westlichen Mächten kontrolliert werde, dass sie eine Marionette sei. Putin hat gemerkt, dass er mit „nichtkinetischen Maßnahmen“, also mit Cyberangriffen, Informationskrieg, Propagandakampagnen und so weiter, nicht das erreicht, was er will. Wenn er jetzt nicht zuschlägt, wenn er diese prowestliche Regierung jetzt nicht absetzt, wird es ihm in zwei, drei Jahren gar nicht mehr gelingen. Das ist das Kalkül seines jetzigen Angriffs.
Und dann? Was ist das Ziel Putins, will er in Kiew eine russische Scheinregierung nach dem Vorbild der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk installieren?
Die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk sind Militärdiktaturen von stalinistischer Ausprägung, in denen abweichende Meinungen – zum Beispiel proukrainische aber auch nationalistische – hart bestraft werden. Wer sie trotzdem äußert, sitzt schnell in Verliesen und wird möglicherweise gefoltert. Selbst wenn es den Russen gelingen sollte, das Land militärisch und mit einem schrecklichen Blutzoll zu erobern, wie soll danach eine politische Machtausübung funktionieren? Welcher vom Kreml geduldete beziehungsweise eingesetzte Anführer könnte dort nach so einem Krieg überhaupt Politik machen und von einer Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft akzeptiert werden? Es wird keine prorussische Regierung in der Ukraine geben können, die sich auch nur einen Tag lang am Leben hält, ohne eine massive militärische Präsenz, die der Bevölkerung das Gewehr vor die Brust hält.
Putin hat im Juli 2021 in einem viel diskutierten Aufsatz seine These vom „geeinten Volk“ dargelegt, historische Fakten verzerrt und der Ukraine ihre nationale Souveränität abgesprochen. Haben die EU-Regierungen diese Drohungen nicht ernstgenommen?
Sie haben durchaus gesehen, dass Putins Ansichten sehr gefährlich sind. Und während des ersten großen Truppenaufmarsches im Frühjahr 2021 über einen möglichen Großangriff debattiert. Die Folgen waren aber so unüberblickbar, dass man hoffte: Selbst wenn Putin seine hobbyhistorischen Aufsätze schreibt, wird er doch wenigstens von seinen Generälen den Rat bekommen, die Ukraine nicht anzugreifen. Jetzt wissen wir, dass das nicht stimmte.
Was kann die internationale Gemeinschaft jetzt tun?
Was die aktuelle Kriegssituation angeht, ist meiner Meinung nach völlig klar, dass es keine direkte militärische Antwort geben kann. Im Augenblick scheint es schwierig, den nötigen politischen Willen für ein Eingreifen der NATO zu finden. Abgesehen davon lässt der Zustand der Streitkräfte von Ländern wie Deutschland das auch nicht realistisch erscheinen. Die Eskalationsgefahr wäre schlichtweg zu groß – deswegen bleibt nur die Reaktion im Bereich der Wirtschaftssanktionen.
„Die Kremlideologen haben wohl erwartet, dass, sobald sie in die Ukraine eindringen, alles von selbst zusammenbricht – dass die Ukrainer ihre Waffen wegschmeißen“
Halten Sie einen EU- bzw. NATO-Beitritt der Ukraine, wie er von manchen gefordert wird, in absehbarer Zeit für realistisch?
Wir sehen gerade, dass Putin mit seinem wahnsinnigen Krieg die öffentliche Meinung in Europa umkrempelt. Viele fordern nun den Beitritt der Ukraine zur EU. Ein EU-Beitritt ist eigentlich die logische Konsequenz des Euromaidans – das wurde lange Zeit ignoriert. Sollte die Ukraine in irgendeiner Form überleben, wird der EU-Beitritt möglicherweise kommen. Ich erwarte auch, dass die Rufe nach einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine lauter werden. Putin ist ein Judokämpfer, aber er ist kein Schachspieler – er mag also ein gewiefter Taktiker sein, aber er ist ein miserabler Stratege. Gerade torpediert er genau das, was er eigentlich wollte. Niemand hat die Ukraine so stark in Richtung Westen bewegt wie Putin selber. Die Russen waren in den ersten Tagen des Großangriffs erstaunlich langsam. Die Kremlideologen und Militärführer haben wohl erwartet, dass die Ukraine von selbst zusammenbricht, sobald sie eindringen, dass sie gar nicht kämpfen müssen, sondern die Ukrainer ihre Waffen wegschmeißen. Aber das taten sie nicht.
Putin stellt diesen Angriffskrieg wahlweise als „Befreiung“, „Entmilitarisierung“ oder „Entnazifizierung“ der Ukraine dar. Welcher Ideologie bedient er sich?
Dahinter steht ein krankhaft verändertes Verständnis von Staatlichkeit und nationaler Identität der ehemaligen sowjetischen Republiken gegenüber der Ukraine, aber auch Belarus. Das lässt sich vielleicht mit der in der Sowjetunion vorherrschenden Ideologie erklären: „Wer die Sowjetunion aus den ethnischen Teilrepubliken heraus kritisiert, ist vermutlich Nationalist, diesen Nationalismus muss man bekämpfen.“ Spätestens seit dem Aufsatz vom vergangenen Juli ist klar, dass in Putins Kopf die Eigenständigkeit der ukrainischen Nation nicht existiert. Er findet, dass die ukrainische Nation ein Kunstgebilde ist, das lieber heute als morgen abgeschafft werden muss.
Wie erfolgreich hat sich der ukrainische Präsident Selenskyj als Gegenmodell zum Putin-Regime installiert?
Selenskyj ist angetreten als ein Mann des Ausgleichs. Es herrschte die Erwartung, dass jetzt einer kommt, der nicht mehr dogmatisch denkt und lenkt wie sein Vorgänger, der Oligarch Poroschenko. Sondern einer, der pragmatisch ist. Man hoffte, dass es auch in den Minsker Verhandlungen um eine friedliche Lösung mit Russland Fortschritte geben würde. Selenskyj bekam aus der Bevölkerung einen massiven Vertrauensvorschuss, auch wenn viele Beobachter sehr skeptisch waren, weil der Präsident eben nicht aus der Politik, sondern aus dem Showbusiness kommt.
Warum sprechen die Medien nicht von „Russlands“ sondern von „Putins Krieg“?
Es gibt viele Hinweise darauf, dass auch in der Kremlführung keine Einigkeit über die Angriffe herrscht. In der öffentlichen Sitzung des russischen Sicherheitsrates am 21. Februar wurde klar, dass selbst enge Putin-Vertraute wie Auslandsgeheimdienst-Chef Naryschkin Zweifel hatten – und da ging es eigentlich „nur“ um die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die Tatsache, dass die US-Geheimdienste vor einem solchen Angriff gewarnt haben, legt auch nahe, dass aus Putins Umfeld Informationen geleakt wurden – von Eingeweihten, die verstanden, dass das Wahnsinn ist. Ich kann es nur wiederholen: Putin erreicht mit seinem Krieg in der internationalen öffentlichen Meinung genau das Gegenteil dessen, was er eigentlich vorhatte.
Kann sich die russische Gesellschaft von seiner Propaganda emanzipieren?
Die Schlüsselfrage lautet, wie lange Putin die russische Öffentlichkeit hinters Licht führen kann. Es gibt vielleicht Leute im Kreml, die sagen: Wenn wir es in Donezk und Luhansk geschafft haben, ein Terrorregime zu installieren, gelingt es uns vielleicht auch in der ganzen Ukraine. Ich denke aber, es ist unvorstellbar, dass das in der ganzen Ukraine, ja in ganz Russland gelingen kann. 2014/2015, als der Krieg im Donbass wütete, sind sehr viele Russen, zum Teil reguläre Soldaten, zum Teil Freiwillige, gestorben. Die Berichterstattung über ihre Beerdigungen wurde in Russland zensiert. Der Tschetschenienkrieg hat gezeigt, dass tote Soldaten bedeutsame oppositionelle Bewegung in der Zivilgesellschaft anstoßen können. Aktuell sehen wir, dass versucht wird, unabhängige Berichterstattung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Aber die Opfer gibt es – am 2. März meldete Moskau erstmals tote Soldaten –, und das ist wohl nur der Anfang. Man darf diesen Faktor nicht unterschätzen: Die russische Gesellschaft wird Kriegstote nicht ohne Weiteres hinnehmen. Darin liegt, so tragisch das ist, vielleicht eine große Hoffnung.
Nikolaus von Twickel ist Redakteur im Zentrum Liberale Moderne und betreut die Websites „Russland verstehen“ und und „Ukraine verstehen“. 2015/2016 war von Twickel Medienverbindungsoffizier für eine Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im ostukrainischen Donezk.
Titelbild: Marcus Yam/Polaris/laif