Facebook verliert in Europa weiter Nutzerinnen und Nutzer. Im vergangenen halben Jahr sank die Zahl der monatlich aktiven Mitglieder hier um zwei Millionen. Die jüngsten Nachrichten gehen nicht spurlos am Netzwerk vorbei: hier der Datenskandal um Cambridge Analytica, dort die Berichte über politische Einflussnahme, dann wieder eine Sicherheitslücke, durch die Hacker im Oktober Zugriff auf 30 Millionen Profile erhielten.
Im Schatten des strauchelnden Branchenriesen formieren sich bereits alternative soziale Dienste. Sie unterscheiden sich teils radikal zu Facebook und anderen großen Netzwerken – sei es durch ihr Geschäftsmodell, die technische Umsetzung oder ihren Umgang mit Daten.
Fünf Aussichten, wie soziale Netzwerke in der Zukunft funktionieren könnten:
1. Hyperlokal
Facebook vernetzt Menschen rund um die Welt. Hyperlokale, sogenannte Nachbarschaftsnetzwerke, verfolgen den gegenteiligen Ansatz: An der Haustür, am Ende der Straße oder spätestens an der Grenze zum nächsten Viertel ist Schluss. Dienste wie das deutsche nebenan.de oder das US-amerikanische Nextdoor verbinden Menschen, die sich auch mal am Briefkasten treffen könnten. Beide Plattformen bestehen aus vielen Kleinstnetzwerken, die die Nutzer und Nutzerinnen nach und nach aufbauen: digitale Nachbarschaften, in denen sich die Mitglieder gegenseitig austauschen oder helfen können.
Hyperlokale Dienste verbinden Menschen, die sich auch mal zufällig am Briefkasten treffen könnten …
Um einer Nachbarschaft beizutreten, müssen die Nutzerinnen sich bei beiden Diensten zunächst mit Klarnamen anmelden und verifizieren, etwa per Ausweis oder Postkarte. So wird garantiert, dass die Mitglieder auch tatsächlich in der Nachbarschaft wohnen, der sie beitreten möchten. Die Profile und Beiträge können ebenfalls nur Mitglieder derselben Nachbarschaft einsehen. „Wir werden deine Informationen niemals mit Werbetreibenden teilen“, heißt es auf der Website von Nextdoor. Das deutsche Pendant wirbt mit dem TÜV und einem zertifizierten Datenschutz-Siegel.
… aber auch sie müssen sich fragen, wer was über sie wissen darf
Dieser hyperlokale Ansatz soll dem Datenabschöpfen und Missbrauch im Stile Facebooks vorbeugen. Gleichzeitig gibt es Bedenken, dass sich Nachbarn über die Plattform gegenseitig anschwärzen könnten. Und wer nach einem Trainingspartner sucht, gibt dadurch möglicherweise auch seine tägliche Laufstrecke preis.
Die Nutzer von Nachbarschaftsnetzwerken müssen sich also genauso die Frage stellen, wer was über sie wissen darf. Nur dass es statt um Facebook in diesem Fall um den Nachbarn aus dem dritten Stock geht.
2. Dezentral
Lass Daten Taten folgen! Zwölf Tipps, wie du deine Daten schützt
Was mit den Nutzerdaten auf den Servern der meisten Onlineplattformen geschieht, weiß niemand so genau. Das wollen dezentrale Netzwerke ändern. Seit 2010 gibt es die beiden Projekte Diaspora und Friendica, die nicht von Unternehmen, sondern von der Community selbst entwickelt werden. Die Software ist transparent. Jeder Nutzer kann entweder einen eigenen Server bereitstellen, etwa über einen privaten Webspace, oder einem bestehenden Server beitreten. Wer einen Server anbietet, kann wiederum entscheiden, ob er ihn dem kompletten Netzwerk zur Verfügung stellt oder nur ausgewählten Nutzern.
Dezentrale Netzwerke geben ihren Nutzerinnen somit die Kontrolle über das System in die Hand. Sie lassen sich nicht einfach abstellen oder abhören, da sie aus Tausenden privaten individuellen Servern bestehen. Gleichzeitig gibt es keine Regeln, keine Klarnamenpflicht oder Nutzungsbedingungen. Jeder Nutzer kann sie nach seinen eigenen Wünschen anpassen und entwickeln.
Die Nutzer erhalten die volle Kontrolle, müssen dafür aber technisch auf Zack sein. Den Patenonkel trifft man in dezentralen Netzwerken also eher nicht
Diese Anarchie mag attraktiv sein. Sie bedeutet aber auch, dass die Nutzer ihre Nachrichten und Bilder statt einem Unternehmen eben den Betreibern der Einzelserver anvertrauen müssen. Missbrauch ist auch hier nicht ausgeschlossen. Ein weiterer Nachteil: Aufgrund der recht hohen Einstiegshürden trifft man alte Schulfreunde oder den Patenonkel in dezentralen Netzwerken eher nicht. Wer beitritt, sollte technikaffin sein.
3. Kostenpflichtig
Für soziale Netzwerke zahlen? Das können sich Umfragen zufolge nur wenige Menschen vorstellen. Dabei ist es eine naheliegende Lösung: Wenn wir statt mit unseren persönlichen Daten mit Geld bezahlen, sind die Plattformbetreiber nicht mehr auf dubiose Deals mit Werbetreibenden angewiesen. Nutzer werden wieder zu Kunden und sind nicht mehr bloß Ware, die die Plattform an Werbetreibende verkauft. Theoretisch. Genau so beschreibt es das Netzwerk Vero in seinem Manifest.
Für Social Media zu zahlen ist eigentlich nur logisch – dann sind die Netzwerke unabhängig von Werbedeals
Die erste Million Nutzer soll Vero auf Lebenszeit gratis nutzen dürfen, alle folgenden zahlen. Wie viel, ist noch unklar. Dafür bekommen die „Kunden“ einen chronologischen Newsfeed, der anders als bei Facebook nicht per Algorithmus sortiert wird. Für jeden eigenen Beitrag kann eingestellt werden, wer ihn sehen darf.
Es gibt bereits Gerüchte, Facebook erwäge selbst, eine werbefreie Bezahlversion anzubieten
Vero vermarktet sich als Premium-Netzwerk, die Nutzer und Nutzerinnen sollen neben ihren Freunden auch Promis folgen und deren exklusive Inhalte ansehen können. Solche Mehrwerte sind entscheidend für den Erfolg eines kostenpflichtigen Netzwerks. Denn während man bei Diensten wie Netflix oder Spotify genau weiß, was man bekommt, ist das bei sozialen Netzwerken wie Vero unklar.
Da hilft auch das Argument der Werbefreiheit wenig: Zwar möchten viele Menschen nicht, dass mit ihren Daten gehandelt wird. Aber Geld zahlen, nur um Bilder und Artikel teilen zu können, das geht vielen doch zu weit. Diesen Konflikt aufzulösen ist die größte Herausforderung für Dienste wie Vero. Vielleicht kommt ihnen Facebook zuvor: Kürzlich gab es das Gerücht, Facebook erwäge selbst eine kostenpflichtige werbefreie Variante.
4. Als Marktplatz
Noch einen Schritt weiter gehen Plattformen, die nicht etwa Geld von ihren Nutzern haben wollen, sondern sie für ihre Nutzung auch gleich belohnen. Etwa die Berliner Plattform EyeEm, auf der sich alles um Fotos dreht. Die Nutzerinnen können Bilder posten, sie mit Filtern versehen, anderen Nutzern folgen, Beiträge liken und kommentieren, ähnlich wie bei Instagram.
Die Besonderheit ist der an EyeEm angeschlossene Marktplatz. Der Dienst ist nicht nur Fotonetzwerk, sondern auch Bildagentur: Wer möchte, kann seine Fotos zum Verkauf anbieten: 50 Prozent des Verkaufspreises gehen an die Urheber, die andere Hälfte behält EyeEm.
EyeEm hat zwischen Marktplatz und Netzwerk eine Nische gefunden
Durch diese Einnahmen kann der Dienst auf Werbung verzichten. Zwischen Netzwerk und Marktplatz hat EyeEm eine Nische gefunden. Rund 20 Millionen Nutzer zählt die Plattform inzwischen. Brancheninsider vermuten, dass solche „Marktnetzwerke“ immer beliebter werden.
Bestehende Marktplätze wie EyeEm oder das Handarbeitsportal Etsy könnten die Kommunikation unter den Nutzern als Interessengemeinschaft stärken – und so eine zusätzliche soziale Komponente schaffen. Oder andere soziale Netzwerke finden einen Weg, die Inhalte ihrer Nutzer zu vermarkten. Leichter gesagt als getan: Schöne Stillleben und gute Handarbeit lassen sich vielleicht gut verkaufen, Handybilder von der letzten WG-Party eher nicht.
5. In der Nische
Solche Marktnetzwerke für Fotografie oder Handwerk deuten die fünfte Tendenz sozialer Netzwerke bereits an: Spezialisierung. Während Facebook alles sein möchte – Nachrichtenangebot, Gamesplattform, Fotodienst, Videoportal und Messenger –, suchen diese Anbieter ihren Erfolg in der Nische. Ein Beispiel ist das Fitnessnetzwerk Strava, in dem Mitglieder zunächst ihre sportlichen Aktivitäten tracken und mit anderen teilen konnten. Mittlerweile können die Nutzer auch Beiträge mit Bildern oder Text verfassen.
Häkelfreunde, Baseballfans, Bierliebhaber, Bücherwürmer: Es gibt Netzwerke für jedes erdenkliche Hobby
Größtenteils drehen die sich natürlich um Sport und Motivation, und genau darin liegt der Erfolg solcher hyperspeziellen Netzwerke: Sie verbinden Menschen, die sich leidenschaftlich mit einer Sache auseinandersetzen. Sie fühlen sich schnell als Teil einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, nicht als einer unter vielen in der ungreifbaren Masse Facebook. Kein Wunder, dass es längst soziale Netzwerke für jedes erdenkliche Hobby gibt: für Häkelfreunde und Baseballfans, für Bierliebhaber und Bücherwürmer.
Wie bei allen anderen Diensten und Modellen gilt auch für die hyperspeziellen Netzwerke: Freunde und Familienmitglieder trifft man hier eher nicht. Wer Facebook verlässt, muss sich darauf einstellen, dass seine digitale Welt ein bisschen kleiner wird.
Illustrationen: Raúl Soria