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„Wir müssen lernen, mit dieser Wunde zu leben“

Vor 30 Jahren töteten Rechtsextreme bei Brandanschlägen in Mölln drei Menschen. Der Autor und Regisseur Nuran David Calis hat gleich zwei Theaterstücke darüber gemacht

Szene aus dem Theaterstück Mölln 92/22

In der Nacht auf den 23. November 1992 verübten zwei Rechtsextreme in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln Brandanschläge auf zwei Häuser, in denen Menschen mit türkischer Einwanderungsgeschichte lebten. Sie verletzten neun Menschen und töteten drei: Bahide Arslan, 51, und ihre Enkelinnen Ayşe Yılmaz, 14, und Yeliz Arslan, 10 Jahre alt. Der Autor und Regisseur Nuran David Calis hat zwei Theaterstücke über die Ereignisse geschrieben: Im dokumentarischen Stück „Mölln 92/22“ am Schauspiel Köln ließ er Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte ihre Sicht auf die Tat und das Gedenken daran erzählen. In „Das Erbe“, das am 30. Jahrestag des Anschlags an den Münchner Kammerspielen Premiere feiert, geht es um die fiktive türkischstämmige Familie Doğan, die 1992 um ein Familienmitglied trauert und währenddessen von der Nachricht des Möllner Anschlags überrascht wird.

fluter.de: Sie waren 16 Jahre alt und lebten in Bielefeld, als der Brandanschlag von Mölln verübt wurde. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit? 

Nuran David Calis: Ich erinnere mich noch gut an die großen Sorgen meiner Eltern. Sie hatten in Deutschland politisches Asyl beantragt und es nie für möglich gehalten, dass die Fremdenfeindlichkeit sich nach dem Zweiten Weltkrieg hier noch mal so massiv Bahn bricht. Ich erinnere mich, dass meine Eltern in den Nächten direkt nach dem Anschlag das Licht in der Küche und im Flur, die zur Straße rausgingen, immer angelassen haben.

Von solchen Reaktionen – das Licht anlassen, die Feuerlöscher in der Wohnung überprüfen – erzählen auch andere Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die sich für Ihr dokumentarisches Stück „Mölln 92/22“ in Videointerviews an diese Zeit erinnert haben.

In der neuen deutschen migrantischen Geschichte ist das wie ein kollektiver Erinnerungsraum. Wenn ich mit Menschen aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft darüber rede, ist das interessanterweise gar nicht gegenwärtig. Was damals passiert ist, scheint für die meisten eine Randnotiz zu sein. Und das ist wirklich tragisch. Denn es darf keine Randnotiz sein. Ein großer Teil der Bevölkerung hatte damals Angst um sein Leben und das seiner Kinder. Und wir müssen auch darüber reden, dass damals die Grundsteine für den NSU-Terror gelegt wurden. Diese Zeit war der Nährboden für die rechtsradikale Wucht, die sich in der Gesellschaft entwickelt hat.

 
Mölln 92/22 (Foto: David Baltzer)
In „Mölln 92/22“ erzählen unter anderem die Überlebenden des Möllner Anschlags in Videointerviews ihre Sicht auf die Tat und das Gedenken (Foto: David Baltzer)

In „Mölln 92/22“ heißt es: „Es gab kaum Geschichten über die Opfer, die nach 1990 anfingen, in den Häusern zu brennen. Die Migrant*innen waren, wenn überhaupt, nur Objekte für unsere Projektionen, nie Subjekte.“ 

Es wurde damals sehr viel über die Täter gesprochen, es gab Themenabende über den Rassismus, der in Ost- und Westdeutschland aufkeimte. Nach dem Motto: Man muss sich um die jungen Menschen kümmern, diese „Baseballschläger-Generation“. Und die Opfer sind wirklich in den Schatten gedrängt worden. Ibrahim Arslan, einer der Überlebenden des Anschlags von Mölln, erzählt, dass, wenn er bei Vorträgen fragt „Wer von euch kennt Beate Zschäpe?“, alle Finger hochgehen. Aber die Opfer kennt niemand. Niemand kann ihre Namen aussprechen. Das war schon in den Neunzigern so. Wenn damals die Medien das Thema aufgriffen, wurden wir Migranten als Probleme dargestellt, die die Mehrheitsgesellschaft irritieren.

Sie arbeiten in Ihren Stücken regelmäßig mit Betroffenen rechtsextremer Gewalt, im Stück „Die Lücke“ standen beispielsweise Überlebende des NSU-Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße auf der Bühne. Wie war das in „Mölln 92/22“? 

Der Theaterabend wird getragen von den Mitgliedern der Familien Arslan und Yılmaz, die den Anschlag überlebt haben. Es gibt Videointerviews mit den Eltern Faruk und Hava und den Söhnen Ibrahim und Namik Arslan. Bei der Premiere standen die Brüder selbst auf der Bühne und haben zusammen mit den Schauspielern ihr Anliegen vorgebracht.

„Die Opfer von rechten Anschlägen kennt niemand. Niemand kann ihre Namen aussprechen. Das war schon nach Mölln so

Wie ist es für Überlebende, an so einem Projekt mitzuarbeiten?

Es ist ein sehr schmerzhafter Prozess, dieses Thema immer wieder aufzugreifen. Aber der größte Teil der Überlebenden will, dass die Gesellschaft teilnimmt an dem, was ihnen passiert ist. Und sie wollen die Hoffnung haben, dass so etwas keiner anderen Familie passiert.

Was haben Sie durch die Arbeit mit den Überlebenden gelernt?

Dass es den Angehörigen beim Gedenken nicht um Versöhnung geht. Es hat eine elementare Zäsur gegeben, etwas ist irreparabel gestört. Diese Störung müssen wir aushalten, das ist wichtig – auch wenn wir uns als Gesellschaft wünschen würden, dass da etwas heilt. Wir müssen lernen, mit dieser Wunde, diesem Schmerz zu leben. Und wir müssen lernen, dass die Frage, wie erinnert werden soll, nicht von Politikern bestimmt wird.

Die Familie Arslan organisiert seit Jahren ihre eigene Gedenkveranstaltung, weil sie sich von der Stadt Mölln nicht gehört fühlt. Auch an anderen Orten sind Überlebende rechtsextremer Gewalt enttäuscht vom Umgang öffentlicher Stellen mit dem Gedenken. 

Ja, in Köln gibt es zum Beispiel immer noch kein Mahnmal für das NSU-Attentat in der Keupstraße. Oder im Fall des Brandanschlags von Solingen: Es gibt eine Straße, die nach dem jüngsten Opfer, der damals vierjährigen Saime Genç, benannt wurde. Die liegt aber nicht in Solingen, sondern in Bonn, in einem Gewerbegebiet, und führt in eine Sackgasse. Damit man solche Fehler nicht macht, müssten öffentliche Stellen sich viel stärker mit den Angehörigen beschäftigen. Aber dieser Dialog findet nicht statt. Deswegen sind die Angehörigen zum Teil wirklich am Boden zerstört. Manche sagen, das ist der zweite Anschlag, den sie da erfahren.

Das Erbe (Foto: Susanne Steinmaßl)
„Das Erbe“ zeigt, wie die fiktive Familie Doğan, die sich in Deutschland zu Millionär*innen hochgearbeitet hat, auf den Anschlag von Mölln reagiert (Foto: Susanne Steinmaßl)

Welche Funktion haben Stücke wie Ihre, hat die Kunst generell beim Gedenken?

Erst einmal ist die Aufgabe, das, was man vorfindet, künstlerisch einzuordnen oder zusammenzufügen. Es wäre aber auch hier wichtig, dass Institutionen wie Fernsehen oder Theater stärker überprüfen, welche Themen und Stimmen sie zulassen. Da draußen gibt es ein Publikum für Themen, wie wir sie in „Mölln 92/22“ und „Das Erbe“ behandeln. Die Mehrheitsgesellschaft ist ein Publikum dafür, weil man ihr so andere, gegenwärtigere Narrative erzählt über die Einwanderungsgesellschaft, die wir sind. Die viel reicher und viel weiter ist, als es uns Rechtsradikale einzureden versuchen. 

„Es gibt so viele migrantische Erfolgsgeschichten. Aber wir erzählen zu wenig davon“

Ihr zweites Stück zum Anschlag von Mölln, „Das Erbe“, hat am diesjährigen Jahrestag in München Premiere. Es spielt 1992 und erzählt von der fiktiven Familie Doğan, die sich in Deutschland von „Gastarbeiter*innen“ zu Millionär*innen hochgearbeitet hat und nun versucht, mit der Nachricht vom Anschlag umzugehen. Was würden Sie sich wünschen, mit was für Gedanken das Publikum aus dem Theaterabend herausgeht? 

Ich habe das Stück auch mal meinen, ich sage mal „deutschen“ Freunden zu lesen gegeben. Die meinten, so eine Geschichte von einer Familie aus der migrantischen Szene, die Erfolg hat, hätten sie noch nie gelesen, das sei ja fast wie die türkischen Buddenbrooks. Ich würde mir wünschen, dass auch das Publikum sagt: Das hat uns überrascht. Es gibt so viele migrantische Erfolgsgeschichten. Man denke nur an das türkische Ehepaar, das Biontech gegründet hat. Aber wir erzählen zu wenig davon.

Die Regisseurin und viele der Schauspieler*innen in „Das Erbe“ haben eine türkische Familiengeschichte. War Ihnen das wichtig? 

Den ganzen künstlerischen Zugang und die Besetzung, darüber hat das Leitungsteam um die Regisseurin Pınar Karabulut entschieden. Aber ein türkischstämmiger Schauspieler aus der Gruppe, den ich kenne, hat sich bei mir bedankt. Er meinte, er habe die ganze Zeit nur Gangsterrollen oder andere Schubladen angeboten bekommen und er freue sich so, jetzt einen türkischen Menschen spielen zu dürfen, der auf der Business School war. Da habe ich mir gedacht: Auch wir haben uns vielleicht zu sehr begnügt mit den Schubladen, in die wir gesteckt wurden. Vielleicht ist das jetzt ein Moment des Empowerments, sich aus diesen Schubladen zu befreien – andere Ansprüche an das Theater oder Fernsehen zu stellen und auch andere Geschichten zu schreiben und zu spielen. 

Nuran David Calis wurde 1976 in Bielefeld geboren. Seine Eltern sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert und haben armenisch-jüdische Wurzeln. Calis hat Regie studiert und für seine Theaterarbeiten, die sich häufig mit politischen Themen auseinandersetzen, zahlreiche Preise gewonnen. (Foto: Costa Belibasakis)

Titelbild: David Baltzer

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