fluter.de: Wie hat sich das Leben in Hanau in den vergangenen zwei Jahren verändert?
Newroz Duman: Der Schmerz bei den Betroffenen ist immer noch sehr groß. Ein solches Trauma lässt sich nicht in zwei Jahren verarbeiten. Es stehen weiterhin viele Fragen im Raum, die aus Sicht der Opfer unbeantwortet geblieben sind. Um diese Antworten zu bekommen, haben die Menschen wirklich mehr als nur alles gegeben. Sie haben sehr viel Zeit und Energie investiert, um gesellschaftlich etwas zu verändern – und sie tun das weiterhin. Durch die Initiative „19. Februar Hanau“ wurde ein Safe Space geschaffen, in dem sich die Hinterbliebenen zunächst austauschen konnten, wie man auf den Anschlag und dessen Folgen aufmerksam machen kann. Das wurde dann auch umgesetzt.
Welche Fragen sind aktuell in der Aufarbeitung noch offen?
Der Untersuchungsausschuss hat ja erst im vergangenen Dezember angefangen öffentlich zu tagen. Die Angehörigen haben ihre Aussagen gemacht und ihre Fragen gestellt. Nun ist die Politik an der Reihe. Die vollständige Aufarbeitung des Anschlags ist ihre Pflicht. Das wäre auch eine Chance, um endlich all die offenen Fragen zu beantworten. Da geht es etwa um Anzeigen des Täters mit Bezug zu Verschwörungsideologien vor der Tat sowie dessen Waffenerlaubnis, die Thematik um den Notausgang (Anm. d. Red.: In der Tatnacht war der Notausgang in der Arena Bar, einem der Tatorte, versperrt. Überlebende und Hinterbliebene stellten deshalb eine Anzeige gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Tötung, die Ermittlungen wurden aber eingestellt), der Umgang mit den Angehörigen oder rechtswidrige Obduktionen. All diese Fragen stehen weiterhin im Raum und sind nicht beantwortet.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit verantwortlichen Stellen – zum Beispiel dem Innenministerium und der Polizei vor Ort – heute?
Eine solche Zusammenarbeit gibt es nicht mehr, weil sie nicht funktioniert hat. Das ist auch einer der zentralen Kritikpunkte an die hessische Landesregierung. Der Innenminister hat uns zu keinem Zeitpunkt ein Gespräch angeboten. Versagen und Fehler wurden nicht nur relativiert, sondern auch vertuscht. Erst nachdem medial auf die ganzen Skandale aufmerksam gemacht wurde, musste er teilweise zurückrudern. Konkret ist es aber immer noch so: Sowohl das Innenministerium als auch die Polizei sehen sich nicht als Ansprechpartner, sobald es um Anliegen und Fragen der Angehörigen geht. Eine Kommunikation findet nicht statt. Sie haben sich meiner Meinung nach komplett aus der Verantwortung gezogen und behindern eher die Aufklärung, anstatt zu dieser beizutragen. Ein Totalversagen.
Der „hessische Opferfonds“ besteht seit Ende 2021. In der Regel umfasst er eine einmalige Unterstützung von 10.000 Euro. Bei schweren Körper- und Gesundheitsschäden mit langfristigen oder dauerhaften Folgen auch bis zu 30.000 Euro, in besonderen Härtefällen, etwa nach Todesfällen durch Terroranschläge oder Attentaten, bis zu 100.000 Euro. Das Geld kann an Personen ausgezahlt werden, die seit dem 1. Januar 2019 Opfer einer schweren Gewalttat oder eines Terroranschlages in Hessen geworden sind. Der Fonds bezieht sich dabei nicht explizit auf rassistische oder rechtsextremistische Gewalt. Die Einrichtung des Fonds wurde nach dem Anschlag in Hanau beschlossen, der Fonds nach der Amokfahrt in Volksmarsen und dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke erweitert.
Wie sähe Ihrer Meinung nach eine angemessene Verantwortungsübernahme von Hessen und dem Bund aus?
Nach solch einem rechtsterroristischen Anschlag muss der Fokus vor allem auf der Aufarbeitung liegen. Sowohl die finanzielle als auch die psychologische und soziale Unterstützung der Opfer war auf Landesebene keine Selbstverständlichkeit. Wir haben ein Jahr lang für den Opferfonds gekämpft, damit dieser überhaupt erst auf die Beine gestellt wurde. Die Betroffenen des Hanauer Anschlags werden weiterhin zu Bittstellern gemacht. Auf Bundesebene müssen endlich Waffengesetze verändert werden, damit Täter wie jener aus Hanau nicht so einfach an Mordinstrumente kommen. Außerdem muss das Opferentschädigungsgesetz vereinfacht werden. Die Anträge auf Opferhilfe zu stellen ist sehr zermürbend für die Hinterbliebenen. Die Gelder müssten als Soforthilfen ausgezahlt werden und sich realitätsnah am Alltag der Opfer und Hinterbliebenen orientieren. Beispielsweise müssten Therapiekosten übernommen werden, damit die Hinterbliebenen und Opfer schnell an Plätze kommen. Außerdem brauchen die Opfer auch langfristige Unterstützung, und diese fehlt weiterhin.
Gehen die Betroffenen heute anders mit rassistischen und rechtsextremen Äußerungen um?
Natürlich spielt das eine größere Rolle als zuvor. Viele der Betroffenen kennen Rassismus aus dem Alltag. Seit dem Anschlag in Hanau werden Rechtsextremismus und institutioneller Rassismus auf einer ganz anderen Ebene diskutiert. Sie wurden in den Fokus gerückt. Wir hatten hier in Hanau einen rechtsextremen Täter, doch man gewinnt den Eindruck, dass sein ideologischer Hintergrund weiterhin nicht ernst genommen wird. Genau wie die Perspektive der Opfer, sobald sie versuchen, diese Weltanschauung und diesen expliziten Rassismus in den Vordergrund zu rücken. Die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“ wurde von Serpil Temiz Unvar unter anderem auch deshalb ins Leben gerufen, weil ihr Sohn Ferhat, der bei dem Anschlag getötet wurde, bereits in der Schulzeit Erfahrungen mit Rassismus machen musste.
Ganz allgemein – was wünschen Sie sich in Zukunft für die Debatte um rechtsextreme Anschläge und deren Aufarbeitung?
Diskussionen über Rassismus und rechtsextreme Anschläge dürfen nicht im luftleeren Raum stattfinden. Das gesamte gesellschaftliche Klima, die Medien und die Politik spielen hierbei eine Rolle. All diese Akteure haben die Verantwortung, sich damit auseinanderzusetzen, um gewisse Strukturen zu verändern. Der erste große Schritt wäre, diese Verantwortung zu akzeptieren und sich dieser anzunehmen. Es muss eingesehen werden, dass der Hanauer Anschlag keine Einzeltat war, sondern dass System und gewisse Strukturen in unserer Gesellschaft eine Rolle spielten und dass so letzten Endes aus Worten Schüsse wurden. Der Anschlag war das Resultat eines hetzerischen Zusammenspiels, und damit muss man sich gewissenhaft auseinandersetzen. Alle Bereiche der Gesellschaft müssen dies einsehen und die Erinnerung an den Anschlag hochhalten. Andernfalls kann keine Veränderung stattfinden.
Titelbild: Fabian Ritter