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Wir sind der Rat

Welche Rolle soll Deutschland in der Welt spielen? Wochenlang haben zufällig ausgewählte Menschen in einem Bürgerrat diskutiert, heute präsentieren sie die Ergebnisse. Bringt das was?

Bürgerrat

Als Tonja Buchholz den Brief öffnet, denkt sie, das alles sei ein Scherz. „Ich habe wirklich geglaubt, das sei nur Spam.“ Schon nach kurzer Recherche stellt sich heraus: kein Scherz. Die 22-jährige Steuerfachangestellte ist tatsächlich eine von 4.378 Menschen in Deutschland, die eingeladen wurden, am bundesweiten Experiment „Bürgerrat“ teilzunehmen.

Tonja, von der Vorstellung begeistert, sagt sofort zu. „Ich dachte mir: So eine Chance bekomme ich nie wieder.“ Und sie hat noch mal Glück: Von den 341 Kontaktierten, die sich zurückmelden, wird sie erneut ausgelost. Gemeinsam mit 168 anderen Menschen soll Tonja über „Deutschlands Rolle in der Welt“ diskutieren – und am Ende Handlungsempfehlungen für den Bundestag erarbeiten. Auch für den 19-jährigen Leon Busch ist schnell nach Briefeingang klar, dass er teilnimmt – trotz der „unbezahlten Überstunden“: „Ich habe mich verpflichtet gefühlt, weil ich das wichtig finde – sowohl für Deutschland als auch für die Demokratie.“

Der Auftakt: 169 Bürger in einem Zoom-Call

Schon länger wird diese deutsche Demokratie – meist verbal – angegriffen, in der Corona-Pandemie gar von manchem Verschwörungsideologen für tot erklärt. Einigen scheint im Internet die Fähigkeit, mit Menschen anderer Meinung konstruktiv zu diskutieren, ganz abhandengekommen zu sein. Nur ein kleiner Teil stellt gleich die ganze Demokratie infrage, viele aber haben den Eindruck, dass politische Entscheidungen zu weit weg von ihrem persönlichen Lebensalltag verhandelt werden. Auch Leon kennt dieses Gefühl: „Ich möchte, dass unsere Stimmen gehört werden und dass dann auch etwas umgesetzt wird.“

Die Rätin: Für Tonja war gleich klar, dass sie beim Bürgerrat dabei sein will

Dass das wichtig ist, hat auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erkannt. „Wir müssen unsere parlamentarische Demokratie zukunftsfähig machen“, sagte er im vergangenen Jahr. Bereits 2019 hatte ein bundesweiter Bürgerrat, initiiert vom Verein „Mehr Demokratie“, über mehr Transparenz in der Politik beraten. Einer seiner 22 Vorschläge waren weitere per Los gewählte Bürgerräte, wofür sich die Fraktionen ausgesprochen haben. Schäuble ist seither Schirmherr des Projektes.

Am 13. Januar, gegen 18 Uhr, sitzt Tonja vor ihrem Laptop in Dettelbach, einer Kleinstadt in Bayern. Die erste Sitzung – und alle weiteren Termine – finden wegen Corona digital statt.

Alle 169 ausgelosten Bürger:innen sind an diesem Tag bei Zoom dabei. Sie kommen aus allen Ecken Deutschlands, aus Großstädten und kleinen Dörfern. Es sind junge und alte Menschen dabei, Menschen mit Migrationshintergrund und ohne. Der Bürgerrat soll eine Art „Mini-Deutschland“ abbilden. Damit sich alle gut informiert beteiligen können, referieren zunächst ausgewählte Expert:innen über Themen wie die Rolle Deutschlands in der Außenpolitik, der Europäischen Union und im internationalen Handel.

Nach zwei Tagen Einführung geht die Arbeit richtig los: Die Teilnehmenden werden per Los in fünf „Reisegruppen“ aufgeteilt. Deren Themen sind „Demokratie und Rechtsstaat“, „Frieden und Sicherheit“, „Wirtschaft und Handel“, „Nachhaltige Entwicklung“ und „Europäische Union“. Tonja ist in der Gruppe für Frieden und Sicherheit – und zufrieden damit. Die 22-Jährige kommt aus einer Soldatenfamilie, sowohl ihr Vater als auch ihr Bruder waren bei der Bundeswehr. „Ich fand es super, dass ich in diese Gruppe gekommen bin, weil ich mir dachte: Da habe ich schon ein bisschen Ahnung.“

Ist so ein Bürgerrat wirklich Deutschland im Kleinformat?

Insgesamt sechs Mal treffen sich die Reisegruppen in den darauffolgenden drei Wochen. Am Ende des Projekts werden sie, inklusive der Plenumssitzungen, 50 Stunden gemeinsam vor dem Laptop verbracht haben. Leon ist Teil der Reisegruppe für „Nachhaltige Entwicklung“. Aus seinem Zimmer in Burgpreppach, einer kleinen fränkischen Gemeinde nahe Bamberg, diskutiert er mit seinen Mitreisenden an einem der Abende etwa Deutschlands Rolle im Klimaschutz, an einem anderen die Agrarpolitik. Um möglichst detaillierte Empfehlungen zu erarbeiten, teilen sich die Reisegruppen sogar noch mal in sogenannte „Tischgruppen“ von sechs bis acht Personen auf. Moderator:innen führen durch die Sitzungen, helfen bei Formulierungen und achten darauf, dass alle zu Wort kommen.

Auch Bürger von „Mini-Deutschland": Leon

Sowohl Tonja als auch Leon sind überrascht, wie gut alles funktioniert – und wie viel Konsens unter den Teilnehmenden herrscht. „Es gab schon immer mehrere Meinungen, und es musste oft heftig diskutiert werden. Aber bei vielen Dingen waren wir uns schnell einig“, erinnert sich Leon. Trotzdem glaubt Tonja, gelernt zu haben, sich besser mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Beide sehen sich selbst als politisch interessierte Menschen. Sie fragen sich: Haben die, mit denen man mal diskutieren sollte, vielleicht gar nicht erst beim Bürgerrat mitgemacht? Und was bringt das Ganze dann? „Die, die angeschrieben worden sind und dann nicht mitgemacht haben, wären eigentlich genau die, die mal gehört werden sollten“, findet Tonja.

Die Zahlen zeigen: Nur zehn Prozent der Teilnehmenden haben einen Hauptschulabschluss, in der deutschen Bevölkerung sind es 30 Prozent. Dafür sind Menschen mit Abitur und Hochschulabschluss zusammengenommen im Bürgerrat mit knapp 54 Prozent deutlich überrepräsentiert. „Mini-Deutschland“ ist das nicht gerade. 

Dabei ist genau das die Idee, die hinter den Bürgerräten steckt: Menschen aus allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen an politischen Prozessen zu beteiligen. Ein Problem, dessen sich die Initiator:innen bewusst sind. In Zukunft solle, auch durch eine Verbesserung des Losverfahrens, verstärkt daran gearbeitet werden, zum Beispiel auch Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss für die Teilnahme am Bürgerrat zu begeistern.

Kritiker:innen bemängeln außerdem, dass die Teilnehmenden in Bürgerräten zwar ihre Meinung äußern, letztendlich aber nichts entscheiden können. Sind die Handlungsempfehlungen erst mal ausgearbeitet, obliegt den Ausschüssen und Fraktionen des Bundestages, was sie damit anfangen. Bürgerräte haben also keine direkte Entscheidungsgewalt.

Hinter dem Projekt stehen der Verein „Mehr Demokratie“ und der Thinktank „Es geht LOS“. Durchgeführt wurde der Bürgerrat von den Instituten Ifok, Nexus und IPG. Für die Themenwahl haben die Organisator:innen mit Bürger:innen, den Bundestagsfraktionen, Vertreter:innen von Ministerien sowie der Zivilgesellschaft und Expert:innen gesprochen. Der Bürgerrat kostet etwa 1,9 Millionen Euro. Finanziert wird er durch Spenden – vor allem durch Stiftungsgelder z.B. von der Robert Bosch Stiftung und der Stiftung Mercator.

Sie können dennoch einen Anstoß geben. So war eine Kernforderung des 2019 abgehaltenen Bürgerrates die Einführung eines inzwischen beschlossenen Lobbyregisters. Inwieweit der Bürgerrat diese Entscheidung tatsächlich beeinflusst hat, ist aber für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar.

Am 10. Februar geht es für die Teilnehmenden des diesjährigen Bürgerrates langsam in den Endspurt. In Tonjas Gruppe werden die erarbeiteten Empfehlungen noch mal in Kleingruppen angesehen, hinterfragt, es wird an Formulierungen gefeilt. Die Moderator:innen unterstützen dabei und achten besonders auf eine sensible Wortwahl, zum Beispiel darauf, dass mit Sternchen gegendert wird. Bisweilen geben sie aber auch Formulierungen vor, die so nicht wortwörtlich gefallen sind.

Zudem sind es immer wieder dieselben Personen, die ihre Hand heben – und damit auch die Richtung der Diskussion bestimmen. Leon und Tonja sind, wie viele andere, eher stille Zuhörer:innen und melden sich nur selten zu Wort. Die Stimmung ist konstruktiv, die Zeit begrenzt.

Und – was bringt's?

Nach nur einer Stunde geht es zurück in die „Reisegruppe“ – dort werden noch einmal alle Empfehlungen vorgestellt. Der Moderator der Gruppe bittet um ein kurzes Feedback: Sieht sie sich in dem Erarbeiteten widergespiegelt? Tonja hält drei von fünf Fingern in ihre Webcam. Einige Punkte seien für sie noch nicht ausgereift genug. Trotzdem ist sie mit dem Gesamtergebnis zufrieden. Ihre Antwort: „Ich stimme nicht mit allem überein, aber wenn das die Mehrheit so will, dann ist das für mich in Ordnung.“ 

Zwei weitere Sitzungen später ist es geschafft: Am 20. Februar wählt der Bürgerrat im großen Plenum aus allen Reisegruppen anonym die finalen Empfehlungen für den Bundestag aus. Nicht alle Teilnehmenden sind bis zum Ende dabeigeblieben, 17 Personen steigen innerhalb der fünfeinhalb Wochen aus. Tonja und Leon haben durchgehalten. Wie zuversichtlich sind sie, dass der Bundestag den ausgehandelten Empfehlungen nun nachkommt? Leon zeigt sich hoffnungsvoll, Tonja ist verhaltener: „Gewisse Themen können schon umgesetzt werden – andere sind wiederum zu optimistisch.“ Tonja hatte übrigens noch ein drittes Mal Glück: Am 19. März darf sie nach Berlin fahren und gemeinsam mit einem anderen Teilnehmer das Bürgerrat-Gutachten an Wolfgang Schäuble überreichen.

 Illustration: Frank Höhne

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