fluter.de: Mit dem Beginn des neuen Jahres starten die Parteien direkt in die heiße Wahlkampfphase. Was sind die großen Herausforderungen des verkürzten Wahlkampfs?
Julia Reuschenbach: Parteiprogramme schnüren, Kandidaten für die Landeslisten aufstellen, Kampagnen vorbereiten, Plakate kleben, Veranstaltungen planen – für alles bleibt weniger Zeit. Ich gehe davon aus, dass in allen Parteien gerade ein gewisser Pragmatismus herrscht: Über einzelne Punkte im Wahlprogramm hätte man gerne noch detaillierter diskutiert. Aber das ist in der Kürze der Zeit eben nicht machbar. Das birgt das Risiko, dass aktuelle Stimmungen in der Gesellschaft viel stärker berücksichtigt werden und grundsätzlichere Fragen etwa in der Energie-, Klima- oder Sozialpolitik im Wahlkampf weniger Raum einnehmen. Und es kann dazu führen, dass auch unausgegorene, noch nicht ganz zu Ende gedachte Vorschläge präsentiert werden. Das sieht man zum Beispiel, wenn Parteien Teile ihres Programms vorstellen und Experten sagen: Das ist ja gar nicht finanzierbar, woher soll das Geld kommen?
Auch Wähler:innen bleibt weniger Zeit, sich zu entscheiden.
Ja, auch für sie geht jetzt alles viel schneller. Die Briefwahlunterlagen werden voraussichtlich ab Anfang Februar versendet, wobei es regionale Unterschiede geben könnte. Das heißt, für die Briefwahl bleiben etwa zwei Wochen Bedenkzeit. Sie müssen jetzt eilig Entscheidungen treffen, um sich auf ihre Stimmvergabe vorzubereiten: Wie informiere ich mich über die Parteiprogramme? Welche Medien nutze ich, an welchen Veranstaltungen nehme ich teil? Was Familien und Freunde wählen wollen, wird für viele angesichts der Kürze der Zeit vermutlich auch eine große Rolle spielen. Und das alles zum Jahreswechsel, im Winter. Das sind wirklich erschwerte Bedingungen für alle Beteiligten.
Gerade kleine Parteien sind nicht glücklich mit den schnellen Neuwahlen.
Sie waren die letzten Wochen damit beschäftigt, Unterschriften zu sammeln, um überhaupt auf dem Wahlzettel zu stehen. Wer in der Spalte für die wichtige Zweitstimme auftauchen will, braucht eine sogenannte Landesliste. Laut dem Bundeswahlgesetz müssen Parteien, die seit der letzten Wahl nicht ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten im Bundestag oder in einem Landtag vertreten waren, bis zu 2.000 Unterschriften von Wahlberechtigten für jedes Bundesland nachweisen, in dem sie mit einer Landesliste antreten wollen. Gerade im Winter, wenn nicht viele Menschen auf der Straße anzutreffen sind, kostet das viel Zeit. Generell sind alle Parteien darauf angewiesen, Spenden für den Wahlkampf zu erhalten, sie brauchen diese neben der staatlichen Parteienfinanzierung, etwa für Social-Media-Kampagnen, für Plakate, Flyer und Veranstaltungen. Große, etablierte Parteien, aber auch neue Parteien, die viel Aufmerksamkeit in den Medien hatten, wie zum Beispiel das Bündnis Sahra Wagenknecht, haben häufig durch Spenden und Mitgliedsbeiträge mehr Geld zur Verfügung als kleine Parteien. Auch von der staatlichen Parteienfinanzierung profitieren die kleinen nicht wirklich, denn die Höhe ergibt sich aus den Mitgliederzahlen und auch daraus, wie viele Stimmen sie bei den letzten Europa-, Bundes- oder Landtagswahlen bekommen haben.
Gibt es auch Profiteure der vorgezogenen Wahl?
Ich würde allen demokratischen Parteien zusprechen, dass sie ein Interesse daran haben, dass Neuwahlen nicht zum Standard werden. Denn zerbricht eine Regierung, kann das immer auch ein Einfallstor für rechtspopulistische Parteien sein. Sie haben ein Interesse an der Destabilisierung demokratischer Verfahren. Ihre Erzählung lautet dann: Die da oben kriegen überhaupt nichts geregelt, mit uns wäre das anders. Wenn Menschen mit der bisherigen Regierung sehr unzufrieden sind, ist es wahrscheinlich, dass die regierenden Parteien bei der Wahl abgestraft werden. Die Opposition profitiert, weil sie etwas Neues bieten kann. Das muss aber nicht so sein. Wir sehen auch, dass eine deutliche Mehrheit von Menschen inzwischen sagt: Ich traue eigentlich keiner Partei mehr zu, die großen Probleme gebacken zu bekommen.
„Parteien unterscheiden sich inhaltlich, was für eine Demokratie erst mal wünschenswert ist. Es wird aber nicht mehr über die Unterschiede in der Sache diskutiert, sondern andere Parteien werden als Feindbilder aufgebaut“
Die Ampel-Koalition endete mit einem Knall und vielen Vorwürfen. Worauf müssen wir uns in einem kurzen und harten Wahlkampf einstellen?
Jede Partei sieht diesen Bruch durch ihre Brille und versucht, den Menschen im Land ihre Deutung zu vermitteln und die Wahrnehmung zu beeinflussen. Davon würde ich aber nicht ableiten, wie der Wahlkampf verläuft. Und doch hat sich im Vergleich zum Wahlkampf von 2021 etwas verändert. Wir beobachten eine stärkere, affektive Polarisierung. Das heißt, Parteien unterscheiden sich inhaltlich, was für eine Demokratie und den Wettbewerb erst mal wünschenswert ist. Durch die affektive Polarisierung wird aber nicht mehr über die Unterschiede in der Sache diskutiert, sondern andere Parteien werden als Feindbilder aufgebaut. Sie signalisieren: „Mit den Grünen – geht überhaupt nicht!“, „Die CDU – niemals!“ Das hat in den letzten Jahren stark zugenommen – vor allem mit Blick auf die AfD und die Grünen.
Das macht die Regierungsbildung nach der Wahl deutlich schwieriger.
Das können wir gerade schon in Österreich beobachten. Parteien der politischen Mitte sind dort nicht mehr in der Lage, eine stabile Regierung zu bilden. Dabei ist unsere Demokratie auf das Schmieden und Ringen um Kompromisse ausgerichtet. Es ist entscheidend, dass die Parteien der Mitte miteinander einigungsfähig bleiben. Ich glaube nicht, dass wir in Deutschland schon bei dieser Wahl solche Verhältnisse haben. Langfristig ist die Chance aber groß, dass uns das auch droht.
2021 hat die Flutkatastrophe die Bundestagswahl geprägt. Unter welchem Zeichen steht diese Wahl?
Als die Stellenstreichungen bei VW und Ford bekannt wurden, haben wir gesehen, dass die Wirtschaft eine große Rolle spielte. Seit dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt geht es vor allem um Migration und innere Sicherheit. Mit Blick auf den anhaltenden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und den Amtsantritt von Donald Trump sind aber auch Außen- und Sicherheitspolitik wichtig. Beide Themenfelder – Wirtschaft und Sicherheit – werden den Wahlkampf prägen. Ob sie aber wahlentscheidend sind, lässt sich nicht vorhersagen.
Bei der Bundestagswahl 2021 war zum Beispiel die Flutkatastrophe im Ahrtal ein großes Thema. Trotzdem schafften es die Grünen nicht, den Klimaschutz zum zentralen Wahlkampfthema zu machen. Sechs Wochen bis zur Wahl sind kurz und gleichzeitig sehr lang. In jedem Fall müssen die Parteien sehr breit aufgestellt sein, um auf alles reagieren zu können.
„Die Erzählungen von unsicheren Wahlen gibt es vor allem in der Wählerschaft von populistischen und extremistischen Parteien“
Bis Februar müssen noch rund 60 Millionen Stimmzettel gedruckt werden. Auch organisatorisch ist diese Wahl eine Herausforderung.
Die Suche nach Wahlhelfer:innen, die Planung der Wahllokale – da gibt es wirklich viel zu tun. Bisher konnten wir allerdings beobachten, dass alles reibungsfrei abläuft. Berlin allein benötigt für den Wahlkampf rund 36.600 ehrenamtliche Wahlhelfer:innen für den 23. Februar und hat diese sehr schnell gewinnen können.
Populistische und rechtsextreme Stimmen säen immer wieder Zweifel am korrekten Ablauf von Wahlen, auch in Deutschland. Wie sicher sind die Wahlen hierzulande?
Die Wahlen sind sicher, es gibt eine strenge Überwachung. In unserer Forschung überprüfen wir, wie vertrauenswürdig Wahlen sind. Diese bewerten wir anhand sehr vieler Kriterien. Würde man sie ausdrucken, wäre die Liste sehr lang: Wurden Fristen eingehalten? Hatten alle Wahlberechtigten die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben? Wurden die Stimmen öffentlich ausgezählt? Die Erzählungen von unsicheren Wahlen gibt es vor allem in der Wählerschaft von populistischen und extremistischen Parteien. Und gleichzeitig kamen die gefälschten Stimmzettel bei der Landtagswahl in Sachsen letztes Jahr genau aus diesem Spektrum. Also Menschen aus dem Lager derer, die anzweifeln, dass die Wahl ehrlich war, versuchten, sie zu manipulieren. Eine Studie von Kollegen zeigte, dass die Menschen etwa durch die notwendige Wiederholung der Landtagswahl in Berlin 2021 insgesamt nicht denken, dass die Wahlen unsicher sind. Vielmehr sehen sie darin eine Fehlerkultur, die wichtig ist und zeigt: Das System funktioniert.
Dr. Julia Reuschenbach ist Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität in Berlin mit dem Schwerpunkt Parteien- und Wahlforschung
Titelbild: André Luetzen/laif; Portrait: Tobias Koch