Artur, Can und Hanin auf der Treppe der Schule / "Ruhe Bitte" Zettel an einer Glastür

Abi zu dritt

Wie ist der Schulalltag, wenn der Abiturjahrgang aus drei Personen besteht? Artur, Can und Hanin müssen es wissen, sie machen gerade an einer Berliner Schule ihren Abschluss – und sind ganz schön zufrieden damit

Text: Judith von Plato und Fotos: Hahn & Hartung
Thema: Bildung
4. Juli 2025

Eine Familienpackung Eis und die Biologiebücher, mehr braucht dieser Abi-Jahrgang nicht zum Lernen. Die ganze Stufe der Berliner Margarethe-von-Witzleben-Schule hat sich für ein letztes Lerntreffen vor der erwartungsgemäß schwierigen Bio-Prüfung versammelt. Die ganze Stufe sitzt auf drei Stühlen, trägt drei Paar Sneaker und heißt Artur (20), Can (19) und Hanin (19). Die drei gehören zu einem der kleinsten Abi-Jahrgänge Deutschlands.

Auch wenn das besonders ist, einige Dinge sind wie bei allen: Artur, Can und Hanin haben Kurse, sie schreiben Zentralabitur, und sie lernen – und lernen und lernen. „Es ist einfach zu viel“, sagt Artur. „Es ist unmenschlich“, sagt Hanin. „Eine Aufgabe für den Bundeskanzler“, sagt Can. 

Die Margarethe-von-Witzleben-Schule in Berlin ist eine Schule für Schwerhörige und Gehörlose. In Deutschland sind laut Bundesgesundheitsministerium rund 80.000 Kinder hörgeschädigt. Die Schule ist eine von wenigen öffentlichen Einrichtungen bundesweit, an denen hörgeschädigte Jugendliche aus ganz Deutschland Abitur machen können, unter Bedingungen, die auf sie zugeschnitten sind. Kleine Klassen von bis zu vierzehn Personen sind die Regel, damit alle gut hören können. Ein ganzer Jahrgang, der aus nur drei Leuten besteht, ist aber auch hier ungewöhnlich. Vor wenigen Jahren waren sie noch zu neunt. Doch immer mehr haben sich gegen das Abitur oder für eine andere Schule entschieden. Übrig geblieben sind Artur, Can und Hanin.

 

 Artur, Can und Hanin beim lernen

Wie ging das noch mal mit der Fotosynthese?

Die drei sitzen in ihrem alten Bio-Raum um einen Tisch, vor ihnen liegen ihre Bücher. Aufgeschlagen haben sie die Seite 92: „Die Primärvorgänge der Fotosynthese“, steht dort, eine Seite mit einer beeindruckenden Anzahl an Diagrammen und Fremdwörtern. Ihre Laune lassen sie sich dadurch nicht verderben. „Wir motivieren uns gegenseitig“, erklärt Artur. Das sei während der Schulzeit schon so gewesen: „Wenn ich mal überhaupt keine Lust auf den Unterricht hatte, habt ihr dafür gesorgt, dass es doch lustig wurde“, sagt Hanin. 

Ihre Kurse haben sie weitgehend aufeinander abgestimmt. Durch gemeinsamen Unterricht mit der Stufe unter ihnen hätten sie die Möglichkeit gehabt, eigene Schwerpunkte zu wählen. Aber sie wollten nicht. „Die drei sind eine Symbiose eingegangen“, wird ein Lehrer später feststellen und ungläubig den Kopf schütteln.

Wenn sie reden, gucken sie sich aufmerksam an, oft vervollständigen sie die Sätze der anderen. Wer wann was vervollständigt, hängt allerdings vom Fach ab. „Wir haben sehr unterschiedliche Stärken. Dadurch können wir uns gegenseitig unterstützen“, sagt Artur. Konkurrenz gebe es keine. „Wir fokussieren uns auf uns selbst.“

„Wir müssen uns die ganze Zeit konzentrieren und damit rechnen, drangenommen zu werden. Das setzt uns manchmal unter Druck“

Hanin

Unterricht zu dritt habe aber auch seine Tücken. „Wir müssen immer leistungsbereit sein“, erzählt Can. „Uns die ganze Zeit konzentrieren und damit rechnen, drangenommen zu werden“, ergänzt Hanin. „Das setzt uns manchmal unter Druck.“ Wer die Hausaufgaben vergisst, schreibt nicht ab. „Das würde eh auffallen“, sagt sie. Weil die drei sich so gut mit ihren Lehrkräften verstehen, sind sie manchmal auch ihretwegen zur Schule gekommen, erzählen sie. „Sie unterrichten nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe“, sagt Hanin. 

Auf der anderen Seite der Klassenzimmertür sind die Stimmen der drei nicht mehr zu hören. Je lauter die Geräuschkulisse, desto anstrengender das Hören mit Hörhilfen. Für eine bessere Akustik sind die Räume im Schulgebäude schallgedämmt, extra klein geschnitten und mit hörunterstützender Technik ausgestattet. Außerdem gehören zu dem Schulkonzept die Sensibilisierung und Ausbildung der Mitarbeitenden, mögliches Gebärdendolmetschen, Sprachförderung, eine diskriminierungssensible Unterrichtsgestaltung und die Möglichkeit, Nachteile etwa bei Prüfungen durch individuelle Maßnahmen auszugleichen. 

Vieles davon wird für die drei wohl bald wegfallen. Sie wollen studieren und machen sich Sorgen, dass sie die Dozierenden im Uni-Hörsaal nicht verstehen werden. Bundesweit entscheidet sich etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler mit einer Hörschädigung dafür, eine Regelschule zu besuchen. Wäre der Übergang zur Uni für die drei dann einfacher? Nein, meint Schulleiter Holger Huth, der ein Stockwerk unter dem Bio-Raum in seinem Büro sitzt. 

 

Artur, Can und Hanin auf der Treppe der Schule

„Die drei sind eine Symbiose eingegangen“, sagt ein Lehrer über Hanin, Can und Artur

„Bei vielen Schülerinnen und Schülern gelingt die Inklusion, wenn das Setting stimmt“, sagt er. Oft stimme das Setting aber nicht – zum Beispiel wegen zu wenigen Fachkräften, großer Klassen, fehlender Ausstattung. „Wir fangen die Kinder und Jugendlichen auf, die in der Inklusion untergehen würden.“ Manche gehen aber auch schon seit der ersten Klasse hierher. 

Auf die Realität nach dem Abi würden sie vorbereitet, so der Schulleiter. „Hier lernen sie ihre Rechte kennen und im Idealfall, sie auch einzufordern.“ Der Abi-Jahrgang weiß zum Beispiel, dass sie Dozierende an der Uni bitten können, FM-Geräte zu nutzen, wenn die Akustik zu schlecht sein sollte, damit ihre Stimmen durch ein Richtmikrofon verstärkt und optimal aufbereitet an Hörhilfen übertragen werden.

„Ich hätte niemals gedacht, dass ich es bis hierhin schaffe“

Artur

Außer dieser Sorge ist die Schwerhörigkeit für die drei kaum der Rede wert. Ihnen geht es um andere Dinge, die sie mit der Welt teilen möchten: ihren Mini-Jahrgang und die Stimmung darin. Auf TikTok ließen sie Menschen an ihrem Schulalltag teilhaben, das erfolgreichste Video wurde mehr als eine Million Mal angesehen. Nun ist ihre Schulzeit fast vorbei, und auch wenn sie an diesem Tag noch nicht wissen, ob sie ihr Abi bestehen werden, sind sie stolz. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich es bis hierhin schaffe“, sagt Artur. 

Aber noch haben sie keine Zeit für Sentimentalität. Jetzt konzentrieren Artur, Can und Hanin sich erst mal auf die letzten Prüfungen. Und dann ganz bald auf ihren Abiball. Geld, um einen schicken Raum zu mieten, haben sie zu dritt nicht, aber dann wird eben in der Schule gefeiert – gemeinsam mit ihren Familien, Lehrkräften und Freund:innen. Sie rechnen mit bis zu 80 Menschen. Alle bringen etwas zu essen mit, dann ist auch kein Catering nötig. Feierlich werden sie ihre Zeugnisse bekommen. Sie und ihre Lehrkräfte werden Reden aufeinander halten. Und Artur, Can und Hanin planen ein Quiz, in dem sie das Wissen der Anderen zu ihrer gemeinsamen Zeit abfragen. Klar ist: Vor allem werden sie das Ende einer Ära gebührend feiern.

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