„Wir alle hassen euch. Egal wie viele Jahrhunderte vergehen werden, wir werden euch für immer diskriminieren“ – 2015 erhalten Hunderte Haushalte in den Städten Kōbe, Kyōto und Ōsaka anonyme Hassbriefe mit Botschaften wie dieser. Die Empfänger gehören zur stigmatisierten Minorität der Burakumin – Japans Ausgestoßene.
Burakumin werden nicht aufgrund ihrer Religion marginalisiert, auch nicht wegen ihres Aussehens, ihrer Nationalität oder ihrer Kultur. Der Begriff bedeutet übersetzt ungefähr „Menschen aus dem Dorf“ und ist ein Sammelbegriff für verschiedene Gruppen, die schon im feudalen Japan ausgegrenzt wurden. Sie lebten in eigenen Gemeinden und übten Berufe aus, die als unrein galten, zum Beispiel Leichenbestattung oder Lederherstellung. Ihre Viertel, die ehemaligen Buraku, gelten auch im heutigen Japan als Wohnorte mit viel Armut, geringer Bildung und billigen Mieten, auch wenn sie heute nicht mehr Buraku genannt werden dürfen.
Vom willkürlichen Wesen der Ausgrenzung
Rund die Hälfte der Menschen, die heute in diesen Vierteln leben, werden als Nachfahren von Burakumin verstanden – auch wenn eine lineare Verwandtschaft über Generationen zu Menschen mit „unreinen“ Berufen nicht immer der Fall ist. Heute schätzt man die Anzahl der Burakumin in Japan auf zwischen eine und drei Millionen, die größtenteils im Westen des Landes in Städten wie Kyoto und Hiroshima in einem der rund 4.000 ehemaligen Buraku-Bezirken zu finden sind. Ihre Viertel werden mit Graffitis beschmiert, die ihren Tod fordern, und auch im Internet erhalten sie Drohnachrichten.
Nishijima Fujihiko kennt diese Geschichten nur zu gut. Er ist Burakumin und seit 50 Jahren in der Buraku Liberation League (BLL) aktiv, die jedoch aufgrund ihrer Vergangenheit umstritten ist.
Das in Japan als Wiegenlied beliebte „Takeda no Komoriuta“ wurde ursprünglich von Burakumin gesungen und thematisiert deren Armut
Nishijima ist heute ihr gewählter Generalsekretär. Durch Aufklärung und Bildung will er versuchen, das ewige Stigma zu brechen. „Jeder sollte das Recht haben, stolz auf seine Herkunft und Vorfahren zu sein“, sagt er. Das Ziel der BLL sei es, eine Gesellschaft zu schaffen, in der niemand verheimlichen muss, wer er ist. „Wir in der Organisation outen uns offen als Burakumin, um eine Veränderung zu erreichen.“
Die BLL zählt heute rund 35.000 Mitglieder, laut Nishijima nur ein Fünftel so viele wie zu Spitzenzeiten. Er erklärt das damit, dass sich die wirtschaftliche Situation von vielen Burakumin bereits verbessert habe und sie die Hilfe der BLL nicht mehr benötigen würden. Heute gibt es zudem weitere Projekte und Einrichtungen, die sich für Aufklärung einsetzen, wie zum Beispiel das Menschenrechtsmuseum Liberty Osaka. Trotzdem gibt es weiterhin genug Betroffene, die sich lieber von ihrer eigenen Burakumin-Identität distanzieren wollen.
„Die Stigmatisierung der Burakumin in Japan ist vergleichbar mit der von Hartz-IV-EmpfängerInnen in Deutschland“, sagt Monika Zíková. Für ihre Dissertation erforschte die Ethnologin die Minderheit in Japan. Manche Vorurteile über Burakumin halten sich bis heute. Zum Beispiel, dass sie an einem Geruch zu erkennen seien, der von ihren „unreinen“ Berufen käme. Ab einem gewissen Punkt könnten solche Zuschreibungen auch internalisiert werden: Als Zíková einmal einen Burakumin zu Hause besuchte, entschuldigte sich dieser mehrmals für „den Gestank“ in seiner Wohnung – die Forscherin konnte nicht den geringsten Geruch feststellen.
Je stärker man sich optisch und im Alltag unterscheidet, meint Zíková, umso leichter falle es auch, eine Gruppe zu marginalisieren. Weil sich die Burakumin äußerlich nicht von vielen anderen Menschen in Japan unterscheiden, wurde ihre äußere Abgrenzung früher vorgegeben: Die Vorfahren der Burakumin mussten in manchen Dörfern ein rechteckiges Stück Leder sichtbar an der Kleidung tragen. Sie durften vom Rest der Gesellschaft nicht berührt werden – und falls es doch dazu kam, musste man sich rituell reinigen. Vor Gericht war ihr Leben nur ein Siebtel eines „normalen“ Bürgers wert. „Minderheiten sind praktisch, wenn man jemandem die Schuld für etwas geben will oder sich selbst aufwerten möchte“, sagt Monika Zíková.
1871 wurden die Buraku-Viertel offiziell aufgelöst und die Burakumin dem Rest der Bevölkerung gleichgestellt – entgegen heftiger Proteste der Mehrheitsbevölkerung. Bis 1881 gab es 200 Aufstände, die zum Teil als „Jagd“ bezeichnet wurden. Einen blutigen Höhepunkt gab es 1873 in Mimasaka, wo 18 Burakumin starben und 263 ihrer Häuser in Brand gesteckt wurden. Doch aus Mangel an Alternativen und Akzeptanz blieben viele auch nach der Gleichstellung in ihren oft heruntergekommenen Vierteln.
Bis heute kursieren illegale Listen von Burakumin im Netz
Trotz der Gleichberechtigung, finanzieller Förderprogramme zum Aufbau der Viertel und leichter Verbesserung der wirtschaftlichen Lage arbeiten heute 81 Prozent der Burakumin in ländlichen Gebieten in der Bauindustrie oder weiterhin in traditionellen Gewerben wie Schlachterei oder Lederherstellung. Sie verdienen 70 Prozent des durchschnittlichen Einkommens und brechen dreimal häufiger ein Studium ab als der Rest der Bevölkerung. Obwohl es verboten ist, jemanden öffentlich als Burakumin zu outen, kursieren beispielsweise unter Arbeitgebern illegale Dokumente, die Wohnorte und Namen der Burakumin auflisten und sie dadurch identifizierbar machen. Diese Listen führten in einzelnen Fällen zu Kündigung, Scheidung oder Suizid.
Seit 100 Jahren kämpfen Burakumin für ihre Gleichberechtigung in der japanischen Gesellschaft. Ob es weitere 100 Jahre dauern wird, bis diese tatsächlich erreicht wird, weiß Generalsekretär Nishijima nicht. „Wir sind absolut bestürzt, dass die Diskriminierung immer noch existiert“, sagt er. Er und die anderen Menschen der Buraku Liberation League wollen eine Gesellschaft schaffen, in der ein freies Leben möglich sein kann. „So bald, wie es nur geht.“
Die Bilder in diesem Artikel stammen aus der Fotoserie „NIHON-JIN, BURAKU-MIN: Portraits of Japan's outcast people“ des Fotografen Masaru Goto und sind aus dem Jahr 2007. Aktuellere Arbeiten zu diesem Thema finden sich kaum.