fluter.de: Bevor wir über das Was sprechen, möchte ich dich nach dem Wie fragen. Viele bezeichnen die Menschenfeindlichkeit gegen Sinti und Roma als Antiziganismus, auch der Zentralrat der Sinti und Roma. Der Begriff ist umstritten. Wovon sprichst du?
Serçe Berna Öznarçiçeği: Ich verwende Antiziganismus nicht. Das hat zwei Gründe: Zum einen liegt dem Wort der rassistische Z-Begriff zugrunde. Ich mache kritische Bildungsarbeit und möchte keine Sprache verwenden und Realitäten reproduzieren, die rassistisch sind. Zweitens stammt der Begriff aus der Tsiganologie …
… einer vermeintlichen Wissenschaftsdisziplin über Sinti und Roma, die eine rassistisch-biologistische Ausrichtung hat.
Die Frage ist also, welche Traditionen wir in die Zukunft tragen, wenn wir weiter von Antiziganismus sprechen. Ich spreche von Rassismen gegen Sinti:zze und Rom:nja. Rassismen im Plural, weil ich versuche, mehrdimensional und intersektional zu denken. Menschen haben nie nur eine Identität, also können sich auch Rassismen kombinieren. In meinem Umfeld gibt es viele Sinti:zze und Rom:nja, die muslimisch sozialisiert und damit auch von antimuslimischem Rassismus betroffen sind.
Weder Sinti und Roma noch die Rassismen sind neu. Die Minderheit lebt seit dem Mittelalter in Europa. Wie wurden Sinti und Roma vor gut 700 Jahren hier empfangen?
Zunächst freundlich. Als religiöse Pilger:innen stattete man sie mit Wanderscheinen aus.
Wer damals durch den Flickenteppich aus Kleinstaaten reisen wollte, brauchte hoheitliche Reisegenehmigungen.
Ja, diese neue Freiheit für Sinti:zze und Rom:nja war dann aber sehr schnell wieder vorbei.
Warum?
Als sie im Mittelalter ankamen, plagten Europa Hungersnöte, Kriege und die Pest. Für viele musste die Minderheit als Sündenbock herhalten, weil sich die Zeitgenoss:innen diese Phänomene nicht anders erklären konnten.
Dazu wurden sie offiziell beschuldigt, für Feinde zu spionieren.
1498 beschloss der Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Rom:nja für quasi vogelfrei zu erklären: Ihnen sollte verboten werden, im Lande herumzuziehen und zu handeln. Wer sich dem widersetzte, konnte angegriffen und getötet werden, ohne, dass der Angreifer eine Strafe zu befürchten hatte. In Osteuropa wurden Rom:nja sogar noch bis ins 19. Jahrhundert als Sklav:innen gehalten. Ihre Verfolgung sollte zu allen Zeiten immer auch die Gesellschaft disziplinieren nach dem Motto: Benehmt euch! Sonst wird es euch so ergehen wie denen.
Und das hat funktioniert?
Man sieht die Kontinuitäten bis heute. Ein Beispiel: Vor kurzem hat das Gesundheitsministerium die Familienbesuche in die Türkei und den Balkan dafür verantwortlich gemacht, dass die Corona-Fallzahlen im vergangenen Sommer plötzlich gestiegen sind. Ich finde, daran sieht man, dass die Sündenbock-Strategie immer noch funktioniert.
„Die Rassismen gegen Sinti und Roma haben Jahrhunderte überlebt und sind zusammengewachsen“
Über die Jahrhunderte haben sich die Rassismen gegen Sinti und Roma diversifiziert: Es gibt die romantisierende Vorstellung, dass sie ihr Leben sorglos wie eine nie endende Party betrachten. In christlichen Kreisen entstand der Aberglaube, dass sie schwarze Magie beherrschen würden. Dazu kommt die sozioökonomische Diskriminierung: Die würden angeblich klauen, weil sie so arm seien. Warum ist der Hass so facettenreich?
Mit der Gesellschaft verändern sich die Rassismen. Zumal mit den Rassentheorien und dem nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti:zze und Rom:nja in der jüngeren Geschichte eine neue, schreckliche Dimension hinzukam. Diese unterschiedlichen Zuschreibungen haben sich vermischt, weil die Rassismen über Jahrhunderte überlebt haben und zusammengewachsen sind. Bei dieser Frage müssen wir also auf die weiße Dominanzgesellschaft schauen.
Immer mehr Menschen wollen wissen, was ihre Familienangehörigen zur Zeit der Nazis getrieben haben. Über eine Enkelin, die eine Geschichte fand, die zu Hause nie erzählt wurde
Um was zu erkennen?
Wir leben in einer Gesellschaft, die einen Holocaust mit zwei Genoziden betrieben hat. Diese Geschichte wurde nie ernsthaft aufgearbeitet. Was sehen wir in den Geschichtsbüchern dieser Täter:innen-Gesellschaft? Die Zahl der Todesopfer oder Beschreibungen der Abläufe an den Kriegsfronten. Wirkliche Selbstreflexion sehe ich da nicht. Und genau das ist der Raum, in dem Rassismen weiterleben.
Dann war die Vernichtungspolitik der Nazis, der Genozid an Hunderttausenden Sinti und Roma, auch deshalb so grauenhaft erfolgreich, weil sie in der deutschen Gesellschaft auf hassgesäten Boden traf?
Der Nationalsozialismus konnte nur funktionieren, weil die rassistischen Strukturen in der Gesellschaft gegeben waren. Die Nazis haben zum Beispiel die polizeilichen Registrierungen von Sinti:zze und Rom:nja aus dem Kaiserreich weitergeführt und für ihre Vernichtungspolitik genutzt. Die Kontinuitäten in ihrer Verfolgung gehen aber über den Nationalsozialismus hinaus. Der Bundesgerichtshof hat noch 1956 geurteilt, dass Sinti:zze und Rom:nja nicht aufgrund „rassischer“ Gründe deportiert wurden, sondern weil sie angeblich „asozial“ wären. Bis in die 70er-Jahre wurde in der deutschen Polizeiausbildung gelehrt, dass man zur schnelleren und besseren Personenerfassung mit den KZ-Tätowierungen arbeiten soll.
Die BRD hat den Völkermord an den Sinti und Roma 1982 offiziell anerkannt. Warum hat es so lange gedauert, bis die Öffentlichkeit angefangen hat, sich dem Porajmos – wie der Völkermord auf Romanes bezeichnet wird – zu stellen?
Ich würde nicht sagen, dass sich die deutsche Gesellschaft wirklich gestellt hat. Wir haben es der Bürger:innenrechtsbewegung von Sinti:zze und Rom:nja zu verdanken, dass der Völkermord überhaupt gesehen und dann mit viel Kampf anerkannt wurde. Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti:zze und Rom:nja wurde erst 2012 errichtet. Für mich hat das Denkmal einen emotionalen Wert, weil es das Resultat des Kampfes der Überlebenden des Samudaripen (Anm. d. Red.: ein anderes Wort für den Völkermord, weitere wichtige Begriffe rund um Sinti und Roma erklärt unser FAQ) und ihrer Kinder ist.
„Ich habe erst mit 27 oder 28 Jahren öffentlich gesagt, dass ich Romni bin“
Du hast dir Johann Wilhelm Trollmann tätowieren lassen, einen deutschen Boxmeister, der im Porajmos umgebracht wurde.
Johann „Rukeli“ Trollmann war eine faszinierende Figur. Er hat sich zum Beispiel für einen Boxkampf die Haare blond gefärbt und Mehl ins Gesicht geschmiert, um sich über den Ariertypus lustig zu machen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was das für ein Gefühl gewesen sein muss in einem Raum voller Nazis. Ich habe erst mit 27 oder 28 Jahren öffentlich gesagt, dass ich Romni bin. Trollmann war ein Vorbild für mein Outing.
Viele Roma leben bis heute unter katastrophalen Zuständen, vor allem in Südosteuropa. Aber auch in Deutschland haben Angehörige der Minderheit im Schnitt schlechtere Zugänge zu Bildung oder zum Gesundheitssystem. Wenn öffentlich über Roma und Sinti debattiert wird, steht allerdings meist der Name einer Tomatensauce im Mittelpunkt. Hat die Gesellschaft überhaupt ein Interesse, sich ernsthaft mit dem Thema zu befassen?
Ich finde es wirklich spannend, die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft in der Saucendebatte zu beobachten. Sie bangt um ihre Macht, denn sie musste über Jahrzehnte gar nicht mit Minderheiten wie uns debattieren. Und begreift jetzt langsam: Wir sind viele, wir sind nicht länger ruhig, und vor allem erwarten wir, gehört zu werden. Das löst Angst aus.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sieht nicht nur ideologische Ablehnung als Motivation für die Rassismen gegen Sinti und Roma, sondern auch Unwissenheit und Gleichgültigkeit. Was muss passieren, damit die größte Minderheit Europas sichtbarer wird?
Ich hoffe sehr, dass das Engagement von Sinti:zze und Rom:nja etwas ändert. Und 2019 ist immerhin eine unabhängige Kommission Antiziganismus entstanden.
… ein Expertengremium aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, das das Bundesinnenministerium berät.
Diese Kommission ist ein Schritt. Trotzdem sind wir weiterhin unterrepräsentiert in der Politik und im öffentlichen Leben. Dass wir so wenig sichtbar sind, hat auch mit den Konsequenzen eines Outings als Sinti:zze und Rom:nja zu tun. Du musst damit rechnen, dass du deinen Job verlierst oder Angriffen ausgesetzt bist.
Was hat sich durch dein Outing verändert?
Ich habe etliche Geschwister kennengelernt, die mich empowern und von denen ich lernen kann. Seit ich auch öffentlich Romni bin, ist ein Kollektiv entstanden, das ich vorher nicht hatte.
Serçe Berna Öznarçiçeği, 32, hat so ziemlich alle Klischees und Rassismen gegenüber Sinti und Roma schon gehört: Als Referentin für das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA) in Düsseldorf gibt Serçe Bildungsworkshops und vernetzt Betroffene.