Butscha, 24.2.22
Ich erwachte mitten in der Nacht. Was war das? Eine Explosion auf einem Parkplatz in der Nähe? Wohl nichts Ernstes, dachte ich, drehte mich um und schlief weiter. Aber nur zehn Minuten später stürmte meine Mutter in mein Zimmer und rief voller Angst und Verzweiflung: „Christina ... KRIEG!“
Darauf waren wir nicht vorbereitet. Weder hatten wir Lebensmittel gehortet noch einen Plan für diesen Fall. Als Erstes gingen wir in den Supermarkt. Die Leute dort tauschten besorgte Blicke aus. Als ich in der Schlange wartete, wurde mir plötzlich klar, was die neue Situation bedeutete. Schlagartig fühlte ich Angst, Verwirrung und Leere.
Kurz vor Kriegsbeginn hatte sich mein Freund von mir getrennt und war in eine andere Stadt gezogen. Ich hatte ihn geliebt, nun war mein Leben trist geworden. Ich dachte, ich hätte nichts mehr zu verlieren, fühlte nichts – bis die ersten Bomben fielen.
„GEH ANS TELEFON. Bitte mach dir keine Sorgen. Es ist Krieg, wir werden dich abholen. Bei uns ist es sicherer“, schrieb ich meiner Großmutter. Meine Mutter und ich fuhren zu ihr, um sie zu uns nach Butscha zu bringen. Aus irgendeinem Grund glaubten wir, dass sie hier sicherer sein würde.
Oma stand unter Schock. KRIEG. Wann gab es das zuletzt? Eilig packte sie ihre Taschen. Wir nahmen ein Taxi zurück nach Butscha. Die Straßen waren voll, viele Menschen flüchteten in Richtung der polnischen Grenze. Zwanzig Minuten später, als wir endlich wieder zu Hause waren, begannen die Russen, Hostomel, einen Nachbarort nördlich von Butscha, zu bombardieren. Da bekam ich eine Panikattacke. Ich hörte die lauten Explosionen, sank zu Boden und brach in Tränen aus. Mir wurde klar, dass es ernst war – und dass es andauern würde.
26.2.22
Ich brauchte drei Tage, bis ich mich an die ständigen Explosionen gewöhnt hatte. Wir zogen in den Flur und schliefen dort auf einer Matratze. Wir vermieden es, hinauszugehen oder auch nur in die Nähe der Fenster.
27.2.22
Über Telegram informierte ich mich über die Lage. Leute schrieben Nachrichten wie „Scheiße, hier sind eine Menge Panzer auf den Straßen“. Wir hörten nun permanent ohrenbetäubende Schüsse und Granatenexplosionen. Ich sah ein Video, in dem russische Soldaten das Panzerdenkmal auf dem Gartenplatz in der Nähe von uns beschossen, weil sie es für ein echtes Militärfahrzeug hielten.
Ich wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde. Es war furchtbar. Ich fing an zu weinen, meine Mutter betete, und dann ...
*BUMM*
Eine sehr laute Explosion – direkt über unseren Köpfen. Als würde das Haus einstürzen. Jetzt sind wir obdachlos, dachte ich und schrie. Um mich zu beruhigen, sang meine Mutter ein Schlaflied. Ich umarmte sie fest, als ...
*BUMM*
... eine zweite Granate einschlug. Das ist das Ende, dachte ich. Immerhin war der Hausflur noch intakt. Ich kroch auf allen vieren zu einem Fenster und schaute hinaus. Unsere Wohnung lag im vierten Stock, und die Granate hatte den neunten Stock getroffen. Das Gebäude war zwar offenbar beschädigt, aber nicht zerstört worden. Wir würden weiter hier wohnen können.
3.3.22
Wir zogen um in den großen Keller und suchten uns einen Raum zum Schlafen. Für Oma bereiteten wir einen Platz auf dem Boden, während meine Mutter und ich auf Stühlen im Sitzen schliefen. Es war die Hölle. Es ist schwer zu beschreiben, wie kalt es dort war.
5.3.22
„Ab heute leben wir alle in Russland“, sagten die Leute, als wir an diesem Morgen aus dem Keller kamen. Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir noch nichts von den Massakern in unserer Stadt. Der Gedanke, dass russische Soldaten Zivilistinnen und Zivilisten töten würden, kam uns abwegig vor.
6.3.22
Die Russen liefen herum und kontrollierten jede Wohnung und jeden Keller. Aus Angst, dass jemand in unseren Kellerraum kommt, hatten wir eine Schaufel unter die Türklinke geklemmt. Einige unserer Nachbarinnen und Nachbarn waren noch nicht in den Keller umgezogen, sie waren für mich eine Art Versicherung: Solange sie in ihren Wohnungen lebten, war alles noch irgendwie in Ordnung. In unsere Wohnung gingen wir nur, um die Toilette zu benutzen, uns die Zähne zu putzen und für ein Minimum an Hygiene. Dazu benutzten wir das Wasser, das wir am ersten Tag des Kriegs in großen Eimern gesammelt hatten, denn Leitungswasser und Strom gab es nicht mehr. Weil eine weitere Granate ein großes Loch in das Gebäude gerissen hatte, war es sehr kalt. Die Hälfte der Fenster war kaputt. Wenn ich auf die Toilette ging, trug ich zwei Strumpfhosen, zwei Hosen, vier Pullover und eine Sturmhaube. Einmal, als ich mich gerade im Bad auszog und Explosionen hörte, dachte ich nur: OKAY, GOTT, JETZT HÖR MIR ZU: ICH WILL NICHT AUF DER TOILETTE STERBEN.
Als später auch das Gas ausfiel, kochten wir im Freien über einem Feuer. Zum Essen gingen wir wieder in den Keller. Es ist absurd, doch alles, woran ich im Keller denken konnte, war Sex. Je mehr Explosionen ich hörte, desto mehr Sexgedanken drängten sich in meinen Kopf.
8.3.22
Wir wussten nicht, wie lange die Besatzung dauern und ob es gesicherte Fluchtwege geben würde, also wurde die Gefahr des Verhungerns real. Der Inhaber des Supermarktes erlaubte den Menschen, kostenlos Lebensmittel mitzunehmen. Wir füllten drei Tüten für uns, während ein russischer Soldat mit Gewehr patrouillierte. Ich starrte ihn an, aber er machte sich nicht einmal die Mühe, zurückzuschauen.
In dieser Nacht freundeten wir uns mit den anderen Menschen im Keller an. Wir tranken zusammen Wein, und alles fühlte sich plötzlich normal an – alles bis auf eins: Es gab Gerüchte über Hinrichtungen. Wir hörten Geschichten über Zivilistinnen und Zivilisten, die von den Russen ermordet worden waren. Und die Geschichte einer Familie, die bei der Flucht aus Butscha getötet wurde.
9.3.22
Meine Einstellung zum Tod änderte sich. Ich lag im Keller und wusste, dass direkt über uns russische Panzer rollten, und dachte: Gott, mein Leben war so perfekt. Es wäre ein Segen, wenn ich jetzt hier sterben würde. Das Einzige, was ich noch will, ist, dass meine Bilder sicher sind.
Meine Mutter fühlte sich für unsere Sicherheit verantwortlich und sah die Evakuierungen kritisch. Sie waren sehr gefährlich. Wir hörten Geschichten über Busse, die von Russen beschossen worden waren. Im Keller dagegen hatten wir inzwischen eine wohnliche Atmosphäre geschaffen, alle halfen sich gegenseitig, teilten das Essen, waren freundlich zueinander. Wir waren fast ein wenig verärgert, als die Evakuierungen begannen.
11.3.22
Ich telefonierte mit meinem Ex-Freund und bot ihm an, in unseren Keller zu ziehen, was er auch tat. Nachdem sich immer mehr Menschen evakuieren ließen, fühlten wir uns immer einsamer. Wie üblich verließen wir den Keller gegen Mittag, um Wasser aus der Wohnung zu holen und Suppe zu kochen. Zurück im Keller, beim Essen, hörten wir plötzlich ein seltsames Geräusch. Meine Mutter bat mich und meinen Ex-Freund, nachzusehen. Draußen standen plötzlich zehn russische Soldaten mit Gewehren vor mir. Sie alle starrten auf meine bescheuerte Hose, die ich schon seit Kriegsbeginn anhatte. Obwohl meine Beine zitterten, drehte ich mich um und ging langsam davon. Später im Keller hatte ich Angst davor, dass die Russen kommen und uns alle hinrichten würden.
12.3.22
Als wir gegen neun aufwachten, machten sich alle um uns herum für die Evakuierung bereit. Wenn wir blieben, würden wir allein sein – auch mein Ex-Freund war gerade bei seiner Großmutter zu Besuch. Wir wussten nicht, was sicherer war: gehen oder bleiben. Schließlich hörten wir auf unser Bauchgefühl, das uns sagte, dass es in Butscha bald noch schlimmer würde.
So schnell wie möglich packten wir unsere Taschen. Ich nahm all meine Tagebücher, Erinnerungsstücke und meine geliebten Green-Day-T-Shirts mit. Unser Geld verteilten wir auf verschiedene Taschen und Beutel, falls die Russen versuchen würden, es zu konfiszieren. Meine geliebten Bilder brachte ich in den Keller. Als wir die Wohnung verließen, traf ich auf meinen Ex-Freund. Er hatte keine Ahnung, dass wir fortgingen. Wir starrten uns an, und unsere Blicke sagten alles: Ich konnte nicht länger hierbleiben, er dagegen musste bleiben, weil er seine kranke Großmutter nicht in Butscha zurücklassen konnte. Ich weinte und fühlte mich wie eine Verräterin.
Unser Bus sollte von einem Hotel im nördlichen Teil Butschas abfahren. Wir liefen insgesamt vier Kilometer dorthin, in einer Gruppe von etwa 150 Personen. Überall um uns herum waren Explosionen und Schüsse zu hören. Aber wir spürten keine Angst mehr. Nachdem wir den Bus endlich gefunden hatten, stiegen wir ein und saßen dort in völliger Stille. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt weder etwas gedacht noch gefühlt. Beim Gedanken an die Evakuierung hatten wir noch befürchtet, dass die Russen auf die Busse schießen würden, aber als wir im Bus saßen, dachten wir nicht mehr daran.
Schließlich erreichten wir Bilohorodka, südwestlich von Kyjiw, das bereits wieder unter ukrainischer Kontrolle war. Wir wurden von Freiwilligen begrüßt, die Mittagessen an uns verteilten. Wir tranken Tee und weinten. Ich fühlte mich so leer und erschöpft. Ich dachte an meinen Ex-Freund, der noch in Butscha war. Ich betete, dass auch er evakuiert würde.
Titelbild: Daniel Berehulak/NYT/Redux/laif