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Wenn der Fluss den Tod bringt

Die zahlreichen Krisen im Libanon ermöglichen das Comeback eines Bakteriums: Die Cholera ist im Wasser. Ein Besuch bei denen, die gegen sie ankämpfen

Cholera

Die Geschichte des Nahr Abu Ali ist die vom stolzen Schwan, der zu einem hässlichen Entlein wird. Aus einer Grotte im Heiligen Tal des Libanongebirges entsprungen, bahnt sich der Fluss seinen Weg unterhalb von 3.000 Jahre alten Zedern, treibt klares Wasser durch wilde Felsennatur. Doch auf dem Weg zum Mittelmeer, wo er in der Halbmillionenstadt Tripoli endet, passiert etwas mit ihm. Einzementiert und voller Unrat, beschließt er sein Schicksal als Rinnsal in einem künstlichen Flussbett. Die gerade einmal 45 Kilometer seines Laufs tun ihm nicht gut, beladen ihn mit Schmutz. Und einer unsichtbaren, für Menschen gefährlichen Fracht.

Es ist früher Vormittag in Tripoli, hinunter zum Wasser steigen Wertstoffsammler. Sie stochern am Ufer mit Holzstöcken in Mülltüten, Plastik überall. Hier ist der Nahr Abu Ali so dreckig, dass keiner in ihm sein Gemüse waschen will oder die Wäsche, niemand das Wasser zum Kochen verwendet – wie es noch ein paar Kilometer weiter oberhalb geschieht. Neben dem sichtbaren Dreck schwimmen winzige, unsichtbare Teilchen im Wasser: Bakterien. Vibrio cholerae. Sie übertragen, wie sich erahnen lässt, eine Krankheit, die auf der Nordhalbkugel im Allgemeinen nicht mehr auftritt: Cholera. Ein Kollateralschaden der Industrialisierung, als viele Menschen auf engstem Raum in ärmsten Verhältnissen zusammenkamen. Hamburg zum Beispiel erlebte 1892 einen Choleraausbruch, weil die Stadt es versäumte, für sauberes Trinkwasser zu sorgen. Etwa 8.600 Menschen starben.

29 Länder meldeten im Jahr 2022 Ausbrüche von Cholera

Cholera überlebte bis heute in Weltgegenden mit hoher Armut und erlebte 2022 ein Comeback. 29 Länder meldeten Ausbrüche, darunter der Libanon. Cholera kann tödlich sein. Der Mensch infiziert sich mit dem Bakterium nahezu immer durch kontaminiertes Wasser, wenn er es trinkt oder sein Essen damit in Berührung kommt. Im Libanon, der im Oktober 2022 erstmals seit 1993 wieder einen Choleraausbruch erlebte, ist das leider oft der Fall: Das Wasser nutzt, wer sich keines kaufen kann. Und das sind gerade viele.

Cholera, Libanon
Die ganz große Welle ist vorbei, trotzdem empfangen die Pflegerinnen noch viele Menschen mit Cholera-Symptomen auf der Station in Bebnine

„Was hast du gegessen?“, will die Krankenschwester wissen. „Nur Suppe“, stöhnt ein Mann, er liegt auf einem Feldbett im Keller des staatlichen Medizinischen Grundversorgungszentrums in Bebnine, 20 Kilometer nordöstlich von Tripoli. Der Mittdreißiger kann kaum sprechen, matt und schwach döst er hinter hellbraunen Vorhängen. „Und das Wasser für die Suppe?“, insistiert die Pflegerin. „Weiß ich nicht.“ Vier Patienten mit Cholera liegen hier im provisorischen Lager – getrennt von den Tagespatienten des Zentrums im Erdgeschoss. Die große Welle ist vorüber. Seit Oktober hatte man hier 1.960 Menschen mit Cholera behandelt – der starke wässrige Durchfall wird überstanden, wenn es Zugang zu Flüssigkeit gibt, zu Elektrolyten und Infusionen; wenn nicht, droht eine Dehydration binnen Stunden. Seit vergangenem Oktober verzeichnete der Libanon mehr als 6.100 Cholerafälle, davon 23 mit tödlichem Verlauf.

Inflation, Lockdown, die Explosion in Beirut: der Libanon steckt in einer Krisenspirale

Cholera ist eine Krankheit, die sich an Krisen und Zerstörung nährt. Im Jemen etwa wütet sie, wo ein Bürgerkrieg die Infrastruktur lahmlegt, die Hygiene und Gesundheitsversorgung. Im Libanon herrscht ein Krieg ohne Waffen: Die Armut nimmt rasant zu, denn das Land erlebt derzeit multiple Krisen. Eine Verschuldungsspirale hat die Währung seit 2019 in eine irre Inflation getrieben. Erhielten die Bürger für einen US-Dollar bis dahin noch 1.500 Libanesische Pfund, sind es heute 45.000. Hinzu kamen die Folgen der Corona-Lockdowns und im August 2020 die größte nichtnukleare Explosion der modernen Geschichte, weil Chemikalien im Beiruter Hafen jahrelang falsch gelagert worden waren. Weite Teile der Innenstadt wurden zerstört, Hunderttausende verloren ihre Wohnung.

Jetzt der Krieg in Europa: Früher importierte der Libanon 96 Prozent seines Weizens aus der Ukraine und Russland und kämpft nun mit der aktuellen Verknappung, während schätzungsweise 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus syrischen Geflüchteten bestehen. All dies trifft auf ein politisches System, das durchweg korrumpiert ist und sich nicht auf die Wahl eines Staatspräsidenten einigen kann. Die Regierung ist nur geschäftsführend im Amt, gelähmt und ohnehin Reformen abgeneigt.

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Cholera, Libanon
Wasser gibt es genug, nur was für welches: Aus diesem Bewässerungsteich im Norden des Libanon schöpft es ein Bauer für seine Farm

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Cholera, Libanon
Die Folgen kriegt Naheed Sood El Dine, die Leiterin der Station in Bebnine, zu sehen und zu spüren

„An Gesundheit und Hygiene wird als Erstes gespart“, sagt Naheed Sood El Dine, die Leiterin der Station in Bebnine, sie schaut im Keller vorbei – Routinecheck bei den Cholerapatienten. „Aus der Steckdose kommt kaum Strom, höchstens ein, zwei Stunden am Tag. Da steckt dann eine Familie ihr knappes Geld in die Beteiligung an einem Dieselgenerator und spart woanders, nimmt Wasser von irgendwo, aus dem Kanal, Fluss oder Brunnen.“

An Wasser mangelt es dem Libanon eigentlich nicht. Viele Flüsse bringen das Schmelzwasser aus dem Libanon- und dem Antilibanongebirge herab. Da der Staat aber immer weniger Geld für die öffentliche Infrastruktur ausgibt, verfällt sie. Kläranlagen fehlen allerorten. 92 Prozent der Abwässer geraten ohne Aufbereitung in die Natur, 42 Prozent aller Haushalte sind nicht an eine Kanalisation angeschlossen. Allein in den längsten Fluss des Landes, den Litani, leiten auf seinen 140 Kilometern 18 Krankenhäuser ihre Abwässer ein.

Sood El Dines Handy klingelt. Ihre Finanzverwaltung ist dran, die nächste Rechnung wird fällig: Da vom staatlichen Elektrizitätswerk kaum noch Strom kommt, muss auch das Grundversorgungszentrum auf einen Dieselgeneratoranbieter umsteigen. „Alle sechs Tage muss ich 500 Dollar auftreiben.“ Sie checkt die Wettervorhersage. „Wenn es regnet“, sagt sie, „kriegen wir wieder mehr Cholerafälle.“ Warum? „Keine Ahnung, vielleicht reist der Erreger auch mit dem Regenwasser.“

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Cholera, Libanon
Auch in Akkar, nordöstlich von Bebnine, ist vom Bergquell nicht mehr viel übrig: der Fluss Nahr al-Ostouane

Das Gesundheitsministerium dürfte von vielen Fällen nichts erfahren. Cholera hat ihren Ursprung und Hotspot im Nordosten des Landes, der ärmsten Region; die Informationswege dort sind nicht lückenlos. Keine fünf Kilometer vom Grundversorgungszentrum entfernt steht ein Meer aus weißen Zelten auf Sandsteinfels. Im Lager leben Hunderte aus Syrien Geflüchtete, die Grenze ist zehn Kilometer entfernt. Ein Provisorium, das zum Dauerzustand wurde, eingezäunt und für Journalisten derzeit nicht besuchbar. „Es gibt die Gerüchte, von hier sei die Cholera in den Libanon gekommen“, sagt ein Mann am Tor. „Aber das stimmt nicht.“ Da wolle man keine weiteren Geschichten. Der Mann befürchtet bad news. Will vielleicht eine Skepsis nicht bestärken, die in diesen Zeiten ohnehin auch in der libanesischen Bevölkerung gegenüber „Fremden“ steigt.

Irgendwo im kriegsgeplagten Syrien wird das Virus wohl treffliche Zustände gefunden und sich weiterverbreitet haben. Die erschrockenen Libanesen haben zwar gerade viele Krisen auszubalancieren – aber auf die Cholera reagierten sie rasch. Internationale Hilfsorganisationen eilten ins Land, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schickte 600.000 Impfdosen und Wasserflaschen. Damit wird die Cholera gerade zwar zurückgedrängt, aber nicht ihre Ursache bekämpft.

Zurück in Bebnine, im Grundversorgungszentrum, ordnet Stationsleiterin Sood El Dine Akten auf ihrem Bürotisch. „Wir brauchen mehr Impfdosen“, sagt sie. „Sonst gibt es bald den nächsten Ausbruch.“ Doch der Impfstoff ist knapp. In ihrer Not hat die WHO die Verabreichung einer Dosis für ausreichend erklärt. Eigentlich braucht es zwei. Unten im Keller weigert sich der Cholerapatient, der Mittdreißiger, ein großes Glas mit gelber Flüssigkeit zu trinken – ein Zucker-Salz-Gemisch. „Das schmeckt nicht“, protestiert er. Die Krankenschwester bleibt ungerührt. „Aber die Suppe mit verschmutztem Wasser ging runter, nicht wahr?“ Langsam leert sich das Glas.

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