Wo man einst Benzin zapfte, werden jetzt Mahlzeiten, Medikamente und Sperrholztüren ausgegeben. Auch Joslin Muarkas hat davon gehört. Die 70-Jährige trägt ein T-Shirt, das ausgerechnet einen verletzten Teddybären zeigt, dazu einen Mundschutz gegen das Coronavirus. Muarkas ist herzkrank und fürchtet sich vor zu vielen Menschen. Früher war sie einmal bei einer Bank angestellt, konnte sich selber versorgen. Jetzt ist sie auf Hilfe angewiesen, wie so viele Menschen in Libanon.
Über 200 Menschen sind bei der Detonation am 4. August in Libanons Hauptstadt gestorben, Tausende wurden verletzt, rund 300.000 Menschen drohen durch die Zerstörung obdachlos zu werden. Weite Teile der Infrastruktur der Hauptstadt sind beschädigt, darunter Krankenhäuser und Schulen. Die Katastrophe traf ein Land, das wirtschaftlich und politisch bereits am Boden lag. Die Wirtschaftskrise stürzte seit vergangenem Jahr über die Hälfte der Libanesen in Armut. Mehr als ein Drittel ist arbeitslos. Durch die Hyperinflation hat die libanesische Währung gut 80 Prozent ihres Werts verloren. Die Preise sind gewaltig gestiegen, während das Vermögen der Menschen quasi über Nacht schrumpfte.
Aus Europa kamen Spenden und Helfer nach Beirut
Nun sind in einer Hafenhalle 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat detoniert. Verantwortlich für die unsachgemäße Lagerung seien, so hört man allerorts, Behörden, Politiker und der korrupte libanesische Staat – eine vollständige Aufarbeitung steht aber noch aus. Verantwortlich für die Versorgung der Opfer sind indes vorwiegend die Bürger selbst, besonders die jungen. Sie haben in den Tagen nach dem Inferno Trümmer weggeräumt, Wohnungen wieder bewohnbar gemacht und den Beirutern etwas Hoffnung zurückgegeben.
„Eigentlich wollten wir nur ein bisschen Brot und Gemüse an die Nachbarn verteilen“, erzählt Hussein Kazoun, 28 Jahre alt. Mit Grassroot-Initiativen kennt er sich aus, hat in den vergangenen Jahren einen Ökobauernhof aufgebaut. Als er am Tag nach der Katastrophe seine Nachbarn Mazen und Josephine traf, dachten sie sofort an die stillgelegte Tankstelle vor ihrer Tür.
Auf dem Gelände sollte ein Apartmentturm entstehen. Der Plan versandete, das Bauschild ist längst ausgeblichen, aber jetzt geht es dort lebhaft zu wie nie zuvor. „Schnell kamen die ersten Organisationen, um zu spenden“, erzählt der Mitgründer Mazen Murr. Auch Freunde in Europa sammelten für sie über die Onlineplattform Gofundme. Mazen hat in Italien Restauration und Architektur studiert, seine Skills sind gefragt: Erst trieben sie Plastikplanen auf, um Türen und Fenster notdürftig zu schließen, dann Sperrholz, aus dem Türen gezimmert werden.
Mit roter Farbe sprühten sie den Namen ihrer Organisation auf eine Plane: Nation Station. Zwei Tage waren da seit der Explosion vergangen. Seitdem ist das Team ständig gewachsen. 20 Freiwillige tun Dienst vor Ort, verteilen Medikamente, Kleidung und Essen, pro Tag 100 warme Mahlzeiten und 2.000 Sandwiches. Alle paar Tage liefern Landwirte zweieinhalb Tonnen Obst und Gemüse. Die Spenden kommen von Privatpersonen, aber auch über Hilfsorganisationen wie World Vision oder Junior Chapter International. Manche Klamotten stammen von Familien, die den Libanon nach dem Unglück verlassen haben.
Wer zuerst Hilfe bekommt, entscheidet sich nach Verletzungen, Alter, Kindern, Beruf und Finanzen
Rund 100 weitere Freiwillige sind im Viertel Geitawi unterwegs. Sie haben den früher christlich geprägten Stadtteil, der seit längerem auch Heimat von Geflüchteten und ausländischen Billiglohnkräften ist, in fünf Zonen aufgeteilt. Hier machen sie Hausbesuche, notieren sich, was die Menschen benötigen. Mazen sagt: „Wir haben schnell gemerkt, dass viele Menschen aus anderen Vierteln zu uns kommen, also mussten wir dringend Daten sammeln. Wir brauchten ein System.“
So ist eine fünfstufige Ordnung der Verwundbarkeit entstanden. Darin klassifiziert sind Verletzungen, Alter, Kinder, Berufstätigkeit und Finanzen, eine Triage der materiellen und körperlichen Not. „Die Nation Station braucht jetzt vor allem Strukturen“, sagt auch Jan Pirner. Der 27-Jährige wohnt in Nürnberg, ist aber in Beirut aufgewachsen, weil sein Vater hier gearbeitet hat. Kurz entschlossen ist der Start-up-Unternehmer nach der Explosion in seine zweite Heimat gereist und arbeitet jetzt auf der Tankstelle mit. Während um Jan herum Reisgerichte und Altkleider verteilt werden, telefoniert er mit einer Organisation in einem anderen Stadtteil, tippt in seinen Laptop. In Google Maps markieren die Helfer ihre Einsatzorte. Irgendwann wollen sie ihre Systeme vernetzen. „Wir hier in der Nation Station wollen vor allem Vermittler sein für Hilfe anderer“, sagt Jan, der Wirtschaftsinformatik studiert.
Im Libanon könne man leicht pessimistisch werden, so tief sitze die lähmende Vetternwirtschaft und Korruption. „Doch seit der Revolution ist das anders“, sagt Jan. Die junge Generation ist erwacht: Zwar haben die Massenproteste im vergangenen Herbst nicht den erhofften Neuanfang gebracht, Posten und Gelder werden immer noch entlang konfessioneller Linien vergeben, aber das politische Bewusstsein hat sich nachhaltig geändert.
Die Regierung hat baldige Neuwahlen angekündigt. „Wenn es dazu kommt“, sagt Mazen, „müssen wir Kandidaten finden und Listen aufstellen, uns wieder selbst organisieren.“ Seine Frau Josephine steht daneben und klingt kämpferisch, wenn sie ergänzt: „Genauso wie in diesen Tagen in Beirut.“
Fotos: Thore Schröder