Der Schüler
„Wir brauchen Lernangebote, die Spaß machen“
„Seit 2019 bin ich Mitglied der Bundesschülerkonferenz, seit Oktober 2020 als Generalsekretär. Was ich seit Beginn der Pandemie immer wieder von Mitschülerinnen und Mitschülern höre: Wir schaffen den Stoff nicht, würden ihn aber gerne nachholen. Natürlich ist das jetzt nicht die große Mehrheit. Aber ein Teil der Schülerinnen und Schüler hat bestimmt in einzelnen Fächern Lücken und wäre bereit, auch in den Ferien oder am Wochenende zu lernen. Das Problem ist aber, dass es dafür kaum vernünftige Angebote gibt. Zumindest habe ich bisher noch keine wahrgenommen. Das, was bisher angeboten wird, ist leider meist klassischer Frontalunterricht. Wir brauchen aber Lernangebote, die Spaß machen. Also eben kein Frontalunterricht, wo man zwei Wochen am Stück Mathe übt oder Deutschaufsätze schreibt. Die Frage ist sowieso, ob aktuell nicht ganz andere Kompetenzen gebraucht werden als der klassische Schulstoff. Nichts gegen Gedichtanalyse, aber es gibt, glaube ich, Dringenderes.
Den Umgang mit Internetquellen und Fake News zum Beispiel. Oder Angebote zur Selbstorganisation für die fünften und sechsten Klassen. Warum gibt es denn so etwas nicht? Klar, die Lehrkräfte wollen auch Ferien haben. Aber es könnten doch noch viel mehr Studierende als bisher schon für solche Angebote einspringen. Für diejenigen, die auf Lehramt studieren und wegen der Pandemie keine Praktika machen konnten, wäre es eine gute – und hoffentlich gut bezahlte – Übung. Ehrlich gesagt glaube ich, dass auch mehr Schülerinnen und Schüler teilnehmen würden, wenn nicht die altbekannten Lehrer die Nachhilfe geben. Es wäre also eine Win-win-Situation. Die Bereitschaft bei den Studierenden scheint auch da zu sein. Jedenfalls haben wir in den letzten Monaten zahlreiche Anfragen bekommen.“
Dario Schramm war bis zu seinem Abitur in diesem Sommer Schüler einer Integrierten Gesamtschule in Bergisch Gladbach und ist Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz.
Der Sonderpädagoge
„Wir brauchen Raum für Beziehungsarbeit“
„Ich bin an unserer Schule dafür zuständig, Kinder in Fördergruppen einzuteilen und auch Förderunterricht zu geben. Mit Beginn der zweiten Welle im vergangenen Herbst konnten wir aber wegen der Pandemie keine Ganztagsbetreuung mehr anbieten. Die Folgen sind gravierend. Zum einen stellen wir fest, dass in jeder Altersstufe psychische Erkrankungen stark zugenommen haben. Zum anderen bekomme ich nun gar nicht mehr bei allen Kindern mit, wie sie sich mit ihren individuellen Förderbedürfnissen entwickeln.
Dort, wo ich die Kinder vor den Sommerferien im Unterricht erlebt habe, sind mir sofort die Folgen des Distanzunterrichts aufgefallen: Viele Erstklässler können sich kaum mehr länger als zwei, drei Schulstunden konzentrieren. In den höheren Klassen haben wir auch Fälle von Kindern, die während des Lockdowns spielsüchtig geworden sind. Ich schätze, dass in der Pandemie mindestens zwei bis drei Kinder pro Klasse komplett den Anschluss verloren haben.
Dazu kommen die, die vorher schon nicht mitgekommen sind. Für diese Kinder brauchen wir jetzt Raum für Beziehungsarbeit. Wir müssen dringend die sozialen Kompetenzen stärken. Dafür brauchen Kinder in erster Linie ein intaktes soziales Gefüge, die Begegnung mit Gleichaltrigen – und natürlich individuelle Unterstützung, wo das Verhalten auffällig ist. Damit wir jedem Kind gerecht werden können, müssen die Klassen kleiner werden – und die Teams multiprofessioneller. Bisher haben wir bis zu 25 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse – und in der Regel ‚nur‘ einen Pädagogen. Das ist eigentlich okay, wenn aber drei oder vier aus der Klasse besondere Aufmerksamkeit benötigen, ist die Lerngruppe einfach zu groß. Gut wären maximal 15 Kinder in einer Klasse. Idealerweise gäbe es für jeden Jahrgang ein eigenes Team aus Sozialarbeitern, Integrationserziehern, Schulpsychologen und Sonderpädagogen. So könnten wir viele Kinder gut auffangen.“
Manuel Honisch ist Sonderpädagoge an der Möwensee Grundschule in Berlin.
Die Gewerkschafterin
„Wir brauchen Chancengleichheit“
„2008 wurde auf dem Dresdener Bildungsgipfel von Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Regierungschefs der Länder beschlossen, die Ausgaben für Bildung und Forschung auf zehn Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung zu heben. Doch auch 13 Jahre später sind wir davon noch Lichtjahre entfernt. Aktuell liegen die Bildungsausgaben bei nicht mal fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Welch gravierende Folgen die Sparmentalität vor allem für die benachteiligten Kinder und Jugendlichen hat, führt uns die Pandemie vor Augen.
Wer nicht von seiner Familie unterstützt wird, hat ein deutlich höheres Risiko, jetzt mit großen sozialen und fachlichen Lücken ins neue Schuljahr zu gehen. Daraus müssen wir lernen – und endlich mehr für die Chancengleichheit in diesem Land tun. Auch wenn das sehr viel Geld kosten wird. Um nur ein Beispiel zu nennen: Für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen müssen laut Deutschem Jugendinstitut zwischen 2020 und 2025 5,3 Milliarden Euro in Räume und Ausstattung fließen.
Allein die jährlichen Betriebskosten für die zusätzlichen Plätze werden ab 2025 auf 3,2 Milliarden Euro geschätzt. Aktuell streiten Bund und Länder wieder mal darüber, wer diese Kosten tragen soll. So aber kommen wir nicht weiter. Für ein reiches Land wie Deutschland ist das ein Armutszeugnis. Ähnlich wichtig wie ein Ganztagsplatz für jedes Grundschulkind wäre, dass für jedes Kind auch tatsächlich ein Kitaplatz bereitsteht, dass jedes Schulkind ein digitales Endgerät erhält und dass der Staat ausreichend Lehrkräfte ausbildet, um guten Unterricht gewährleisten zu können. Natürlich lässt sich das nicht von heute auf morgen umsetzen. Die vergangenen 15 Monate aber haben gezeigt, wie dringend wir handeln müssen.“
Maike Finnern ist Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sie war zuvor als Lehrerin für Deutsch und Mathematik zweite Konrektorin einer Realschule in Nordrhein-Westfalen.
Der Wissenschaftler
„Wir brauchen Mentoring-Programme“
„Aus der Forschung wissen wir, dass die Schulschließungen Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Familien besonders stark zurückgeworfen und belastet haben. Ausschließlich mit Nachhilfe oder Ferienschulen anzusetzen, um diese Gruppe für das kommende Schuljahr fit zu machen, wird nicht ausreichen. Unsere Daten zeigen, dass ausgerechnet die Zielgruppe – die abgehängten Schülerinnen und Schüler – solche Lernangebote oft nicht wahrnimmt.
Die Politik muss also auf andere Instrumente zurückgreifen, um diese Jugendlichen zu erreichen. Sehr vielversprechend sind nach meiner Ansicht Mentoring-Programme. Wir haben beim ifo Zentrum für Bildungsökonomik das Programm ROCK YOUR LIFE begleitet, bei dem Studierende benachteiligte Acht- und Neuntklässler für ein Jahr begleiten und Ansprechpartner für alles sind: für Schulleistungen, Freizeitaktivitäten, Zukunftsfragen.
Es geht also nicht um Nachhilfe, sondern um eine dauerhafte Unterstützung, die die Jugendlichen zu Hause nicht bekommen. Wie positiv sich dieses Mentoring auswirkt, haben wir systematisch ausgewertet. Nach einem Jahr waren die Schulleistungen der Teilnehmenden besser, sie konnten mehr soziale Kompetenzen wie Geduld vorweisen und hatten auch eine klarere Vorstellung davon, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Als Ergänzung zur Schule hat das Mentoring also das geleistet, was die Schule erreichen will: junge Menschen zum eigenverantwortlichen Lernen zu befähigen. Ich bin überzeugt, dass wir viel mehr solcher Angebote brauchen. Denn wir dürfen nicht vergessen: Die abgehängten Jugendlichen gibt es nicht erst seit Corona. Und es wird sie auch noch geben, wenn die Pandemie eines Tages vorüber ist.“
Ludger Wößmann leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik in München.
Collagen: Renke Brandt