Sollte man Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ kennen oder doch lieber die queere Liebesgeschichte aus dem Film „Call Me By Your Name“? Muss eine Gesellschaft sich überhaupt auf Werke einigen, die alle kennen? Gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner dessen, was man wissen muss? Darüber wird seit längerer Zeit gestritten: Die einen verteidigen einen Bildungskanon mit bestimmten Klassikern, andere finden Kanonisierung an sich schwierig, weil sie immer subjektiv ist und bestehende Machtverhältnisse bestärkt.
Damit umgehen müssen vor allem die Schulen: Sie sollen das Wissen (zum fluter-Schwerpunkt Wissen) vermitteln, das allen Schüler*innen hilft, sich in der heutigen Zeit zurechtzufinden. Welche Fächer fehlen dafür? Und welche Werke hätten Schüler*innen gern im Unterricht gelesen, gehört oder gesehen? Wir haben auf Instagram rumgefragt – und in den mehr als 100 Antworten fünf Dinge erkannt, die euch am neuen Kanon wichtig zu sind:
Diversität
Mit neun Nennungen wurde in der Kategorie „Gelesen“ Tupoka Ogettes „Exit Racism“ am häufigsten genannt – ein Buch zu rassistischen Strukturen in Deutschland, dessen Relevanz durch die Black Lives Matter-Bewegung noch mal deutlicher wurde. Viele von euch sind dabei aber nicht an klassischen „Kulturcontainern“ wie Buch oder Song interessiert, sondern vor allem an anderen Perspektiven: Wo sind im aktuellen Kanon die Frauen? Wo junge Leute, People of Color oder Queere? Und welches Werk erklärt mir, wie komplex sich verschiedene Diskriminierungskategorien überschneiden können? Viele von euch wollen lieber Nina Simone (5-mal) als Joseph Haydn hören, Margarete Storkowskis „Untenrum frei“ lesen (5-mal), die Doku „I Am Not Your Negro“ über die Lebensgeschichte des Schwarzen Denkers James Baldwin sehen (3-mal, hier im Stream auf bpb.de) und bitte endlich schonungslos über die deutsche Kolonialgeschichte aufgeklärt werden.
Hier streitet eine Abiturientin mit ihrem Politiklehrer, ob es überhaupt einen Bildungskanon braucht …
Nicht nur bei den Urheber*innen, sondern auch in den Werken selbst spielt Diversität eine Rolle. Wäre „Call Me By Your Name“ nicht zum Beispiel eine LGBTQ+-freundliche Alternative zum alten Drama „Die Leiden des jungen Werther“? „Mir fehlen die Stimmen und Werke von mehr QTIBPOC [Anm. d. Red.: „Queer Trans Intersex Black People & People of Colour“] Menschen mit Behinderung und anderen marginalisierten Gruppen“, schreibt eine Nutzerin. Häufig wurde auch der Film „Systemsprenger“ (11-mal) genannt, in dem ein Mädchen durch alle Raster der Jugend- und Sozialhilfe fällt. Kanonische Geschichten und Erzähler*innen sollen genauso bunt sein, wie es unserere Gesellschaft ist, da sind sich viele einig.
Medienkompetenz
Durch das Internet hat jede*r immer und überall Zugang zu weltweiten Diskursen. Also auch zu Fake News. Ihr wollt in der Lage sein, an diesen teilzuhaben und die digitale Informationsflut richtig filtern zu können – viele fühlen sich dabei von der Schule nicht richtig vorbereitet. Medienkompetenz sollte bestenfalls gleich als eigenes Schulfach sein, fanden einige. Anderen würde es schon reichen, wenn die Lehrpläne flexibler werden. Damit öfter mal Zeit bleibt, aktuelle Nachrichten wie Wahlmanipulation, Polizeigewalt oder Terror im Unterricht zu besprechen.
Euer Bildungskanon, ausgezählt
Lebenskunde/Lebensmanagement
In der Schule lernt man, wie man eine Bewerbung schreibt. Wer den Job dann tatsächlich bekommt, für den geht alles oft ganz schnell: eigene Wohnung, Steuererklärung, Versicherungen. Das Fach „Lebenskunde“ könnte auf die Zeit nach der Ausbildung vorbereiten: Wie wird die Rentenversicherung errechnet? Wo spare ich mein Geld? Muss ich eine Steuererklärung machen und eine Haftpflicht abschließen? „Wir sollten in der Schule besser für die bürokratischen Aufgaben des Lebens vorbereitet werden“, schreiben einige. So wäre es zum Beispiel hilfreich, im Unterricht die Antragstellung für das BAföG oder Sozialleistungen zu besprechen. Schon ein kleiner Fehler kann sonst dazu führen, dass der Antrag nicht bewilligt wird. „Einen Vorbereitungskurs für das Leben nach der Schule“ wünscht sich eine Nutzerin. Damit das Leben nicht aus Formularen besteht, die auszufüllen niemand gelernt hat.
Moment, da fehlt doch dieses eine queere Game. Und wo ist das Rapalbum, das mir den Kapitalismus erklärt hat? Hier gibt's den Fragebogen zum Weiterkanonisieren
Mentale Gesundheit
Schneller, intelligenter, kreativer – bis das Leben nur noch aus Superlativen besteht. Die Schule baut auf dem Konzept der Leistungsgesellschaft auf. Was wir dabei nicht lernen: Wie wir den ganzen Stress wieder abbauen. Unserer physischen Gesundheit gehen wir im Sportunterricht nach, die mentale Gesundheit bleibt – weitgehend unerwähnt – auf der Strecke. Dabei zeigen die Zahlen: Immer mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen. Laut „Fehlzeiten-Report 2020“ der AOK haben die Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen seit 2008 um 67,5 Prozent zugenommen. Burn-out, Depressionen und Angststörungen sind oft die Folgen. Jungen Menschen sollte beigebracht werden, wie sie mit dem Druck umgehen und ihre mentale Gesundheit pflegen können, fordern viele. Manche wünschen sich ganz konkret Yoga oder Meditation als Schulfach. Oder wie wär's mit einer Doppelstunde „Work-Life-Balance“ am Mittwochmorgen?
Praxis, Praxis, Praxis
Schüler*innen verbringen die meiste Zeit des Tages: sitzend. Das ändert sich in vielen Berufen auch später nicht. Ihr wünscht euch deshalb mehr Bewegung, weniger Frontalunterricht und mehr Alltagspraktisches. „Werken, weil ich keinen Bock habe, das mit meinem Vater zu machen“, heißt es in einer Antwort. Neben Tischlern, Nähen und Schnitzen hätten einige auch gerne Kochen und saisonal Einkaufen gelernt.
Auch Nachhaltigkeit, Mülltrennung und Gartenarbeit stehen auf euren Stundenplänen. Kein Wunder, schließlich ist der Klimawandel täglicher Begleiter. Oder in den Worten eines Lesers: „Das Fach Umweltschutz, gerne anstelle von klassischer Erdkunde. Wir haben jetzt Google Maps, niemand muss mehr an der Karte vorgeführt werden.“
Collage: Renke Brandt