Als ich neun Jahre alt war und mir mein Vater eröffnete, dass wir zu unserer Familie nach Chile fliegen würden, fing ich an zu weinen. Obwohl ich zweisprachig aufgewachsen war – meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Chilene – und ich eine deutsch-spanische Grundschule in Berlin-Friedrichshain besuchte, hatte ich Angst vor der Reise nach Südamerika. Der derbe Humor und die Feierlust der Latino-Freunde meines Vaters waren mir suspekt; besonders fürchtete ich mich vor Horacio, der mich gerne an den Armen packte und so tat, als würde er mich aus dem geöffneten Wohnungsfenster werfen. Es nervte mich, wenn man mich den „Chilenen“ nannte oder, noch schlimmer, den „Spanier“. Ich verband damit nichts.
Ich: die typische, deutsche Kartoffel
Als wir in Chile ankamen, wurde ich zunächst in meinen Erwartungen bestätigt: Meine Verwandten lachten mich aus, wenn ich in bester preußischer Manier erklärte, dass man leere Straßen bei roter Ampel nicht überqueren dürfe. Oder als ich einen Busfahrer über die Gefahren zu schnellen Fahrens belehrte. Schon bald erkannten sie in mir „el alemán“ – den typischen Deutschen.
Nichtsdestotrotz verwöhnte mich meine chilenische Familie mit Lachsfilets und Avocado-Broten. In einem klapprigen Auto fuhren wir durch die Anden und mit der Seilbahn, dem teleférico, in die Oberstadt von Valparaíso und nach Viñadel Mar an den Strand, wo ich die schäumenden Wellen des Pazifiks bestaunte. Allein in diesem Monat liebkoste mich meine chilenische Verwandtschaft so oft wie meine deutsche in meinem ganzen Leben davor. Meine Tante neckte mich weiterhin. Irgendwann aber begriff ich, dass ich mich gegen die Hänseleien nicht verteidigen musste, sondern einfach mitlachen konnte: Ich entdeckte das Geheimnis der Selbstironie, das vielen Deutschen wohl für immer verborgen bleiben wird. Bei der Abreise weinte ich – diesmal, weil ich nicht mehr zurückwollte.
Als ich später von der deutsch-spanischen Grundschule auf ein normales Gymnasium wechselte, merkte ich, wie interessant mich die chilenische Abstammung für meine Klassenkameraden machte. Ein großes Geheimnis schien sich dahinter zu verbergen, eines, das ich wahrscheinlich nur in der Gegenwart meines Vaters oder meiner Latino-Freunde auslebte. Gerne ließ ich meine Mitschüler in dem Glauben. Ich hörte lateinamerikanische Musik, brachte Empanadas in die Schule mit und drückte bei der Fußball-WM in Südafrika im Chile-Trikot „La Roja“ die Daumen.
„Ich spielte eben Identi-Tetris: Andere waren Klassenclown oder Hippie – ich war der Chilene der Klasse.“
Meine Freunde nahmen mir diese Rolle ab – wie hätten sie auch ahnen können, dass mein Spanisch alles andere als akzentfrei war? Dass ich aus der chilenischen Mannschaft nur den Top-Torjäger Humberto „Chupete“ Suazo kannte und nicht mal chilenische Straßenköter meine halbgaren Empanadas gefressen hätten? Meine Affinität für lateinamerikanische Musik bezog sich einzig auf die chilenische Band aus den 1980er-Jahren, der mein Vater als Pinochet-Geflüchteter noch hinterherhing.
In die Pubertät gekommen, tat ich manchmal so, als riefe mich mein Vater an, und begann in der Gegenwart bestimmter Mädchen wie zufällig Spanisch zu sprechen, mit möglichst vielen gerollten „R“s. Gleichzeitig lehnte ich alles ab, was mir deutsch vorkam: Ich pflegte das Image des Zuspätkommers und Schludrians. Es war aber nicht so, dass ich meine Schulkameraden mutwillig anlog – ich spielte eben Identi-Tetris: Andere waren Klassenclown oder Hippie – ich war der Chilene der Klasse.
Chile zählt zu den reichsten und stabilsten Ländern Südamerikas. Und zu denen mit den meisten Frauenmorden weltweit. Wie kann das sein?
Erst bei meinen beiden späteren Chile-Reisen wurde mir dann bewusst, dass ich nicht nur meinen Freunden, sondern auch mir etwas vorgemacht hatte. Ich war mittlerweile kräftig gewachsen. In Kombination mit meinem helleren Hautton und dem gekünstelten chilenischen Akzent unterschied ich mich kaum noch von den anderen deutschen Patagonien-Touristen. Man sprach mich plötzlich auf Englisch an, Busfahrer gaben mir zu wenig Wechselgeld raus, und das eine oder andere Mal rief mir sogar jemand „Gringo“ hinterher – eine despektierliche Bezeichnung für Menschen aus dem sogenannten „Westen“.
Bye-bye, Latin Lover!
Zu allem Überfluss nahm man mich nicht nur in Südamerika, sondern auch in Deutschland nicht mehr in meiner Rolle als Chilene ernst. Mein schlaksiger Tanzstil passte nicht zum europäischen Bild des Latin Lover, das viele deutsche Mädchen von einem südamerikanischen Jungen haben.
Das war bedrückend. So bedrückend, dass ich mich immer weniger mit dem Chilenen-Image identifizierte. Dabei wurde mir klar, dass sowohl mein Selbstbild als auch die Fremderwartungen an meine südamerikanische Identität wenig mit der chilenischen Lebensrealität zu tun hatten. Diese Einsicht tat weh. Während ich dem Latino unter Schmerzen abschwor, entdeckte ich plötzlich Charakterzüge an mir, die sich nicht geografisch oder kulturell verorten ließen: Fähigkeiten wie Empathie oder Kreativität, die mir meine Freunde zuschrieben. Sie mussten in kein Raster plumper Stereotype passen. Es fühlte sich wie eine Befreiung an.
Heute zucke ich nur noch mit den Schultern, wenn deutsche Freunde meine Unzuverlässigkeit meinen südamerikanischen Wurzeln zuschreiben oder chilenische Verwandte nach einem schlechten Witz von mir „Otto Fritz!“ rufen. Salsa tanzen kann ich immer noch nicht – und werde es vermutlich auch nicht mehr lernen. Lieber genieße ich die Vorteile der Doppelbürgerschaft – zum Beispiel die Möglichkeit, mit meinen beiden Reisepässen in der Universitätsbibliothek zwei Schließfächer gleichzeitig belegen zu können. Nur das „R“, das rolle ich immer noch gerne.
GIF: Renke Brandt