Es ist schon eine Sache, gegen den eigenen Chef wegen sexueller Belästigung vorzugehen. Und noch mal eine ganz andere, wenn der mal Präsident des chilenischen Verfassungsgerichts war. Sofía Brito hat es trotzdem getan.
2017 zeigte die Jurastudentin ihren Professor Carlos Carmona an – und wurde damit zur Symbolfigur. Denn Fälle wie den Britos gab es auch an anderen chilenischen Universitäten. Im Frühjahr 2018 gipfelte der Protest gegen Sexismus im Bildungsbetrieb: Studierende besetzten über 20 Universitäten, 100.000 gingen auf die Straße. Am Ende wurden einige der Beschuldigten suspendiert. So auch der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Carmona – allerdings aus einem fadenscheinigen Grund, weil es keine andere rechtliche Handhabe gab. Sein Amt als Professor legte er nieder.
„In der internationalen Auffassung ist Chile ein sehr modernes Land mit einer stabilen Demokratie, wirtschaftlichem Wachstum und guter Gesundheitsversorgung. Aber das alles hat Chile auf Kosten von Frauen erreicht – nicht mit ihnen.“
Natürlich ist das Problem der sexuellen Belästigung damit nicht gelöst. Aber die Proteste um Brito sind ein Anfang. Derzeit gibt es gleich mehrere feministische Bewegungen im Land. Und das, obwohl Chile in Sachen Gleichberechtigung im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht abschneidet. Im Global Gender Gap Report 2018, der unter anderem Bildungsunterschiede, Einkommen, Lebenserwartung und politische Teilhabe erhebt, belegt das Land Platz 54 von 149 (zum Vergleich: Deutschland landet auf Platz 14). Demnach herrscht zu knapp 72 Prozent Gleichberechtigung im Land. Oder anders gesagt: Zu 28 Prozent sind Frauen in Chile nicht gleichberechtigt. In Deutschland sind es dem Report zufolge 22 Prozent.
Doch genau da liege das Problem, sagt Lorena Fries, Präsidentin der „Corporación Humanas“ für Menschenrechte und Geschlechtergerechtigkeit: „In der internationalen Auffassung ist Chile ein sehr modernes Land mit einer stabilen Demokratie, wirtschaftlichem Wachstum und einer guten Gesundheitsversorgung. Aber das alles hat Chile auf Kosten von Frauen erreicht – nicht mit ihnen.“ So verdienten Frauen durchschnittlich knapp 30 Prozent weniger Gehalt und seien besonders in der Politik und in Leitungspositionen deutlich unterrepräsentiert. Die Frauenrechtsaktivistin Astrid San Martín von „FEMChile“ beklagt zudem Frauen müssten deutlich mehr für eine gute Krankenversicherung zahlen und würden gleichzeitig im Schnitt weniger Rente erhalten.
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Dabei wurde Chile bis 2018 von einer Frau regiert. Die Sozialistin Michelle Bachelet setzte sich für eine Frauenquote bei den zur Wahl stehenden Abgeordneten und für eine Mütterrente ein. In Bachelets Amtszeit fällt auch die Verabschiedung eines der ersten Gesetze, das die Selbstbestimmung über den weiblichen Körper betrifft: Seit 2017 dürfen Frauen in Chile abtreiben. Allerdings nach wie vor nur dann, wenn das Leben der Mutter oder des Kindes ernsthaft gefährdet oder wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. In allen anderen Fällen steht Abtreibung weiterhin unter Strafe. Dass sich das bald ändert, ist unwahrscheinlich.
Im März 2018 trat der konservative Milliardär Sebastián Piñera die Nachfolge von Michelle Bachelet im Präsidentenamt an. Piñera spricht sich deutlich gegen ein liberales Abtreibungsgesetz aus: „Es gibt nichts Fortschrittlicheres, als Leben zu verteidigen.“ Doch laut „FEMChile“ wurden seit seiner Amtseinführung zahlreiche Frauenhäuser geschlossen und der Weg zu einer Politik versperrt, die Frauen vor misogyner Gewalt schützt. Dabei ist gerade die das dringendste Problem: Chile ist weltweit eines der Länder mit den höchsten Raten an Femiziden, also Morden an Frauen aufgrund ihres Geschlechts.
„Diese Misshandlungskultur ist in der chilenischen Gesellschaft sehr tief verwurzelt. Es fehlen Präventionsprogramme und ein Gesetz, das Gewalt gegen Frauen vorbeugt, ihr nachgeht und sie sanktioniert“, sagt die Menschenrechtlerin Fries. Es scheint, als habe Chile stattdessen nun eine Regierung, die die Gleichberechtigung nicht nur vernachlässigt, sondern auch alles bisher Erreichte bedroht.
Das Titelbild von Martin Bernetti (AFP/Getty Images) zeigt einen Protest vor der Katholischen Universität in Santiago.