K20-2-3, K20-2-4, K20-1-3 – was aussieht wie ein Code, beschreibt Nathalies und Thores letzte zwölf Stunden. Gestern haben sie im kalten „Communal Sleeping Room“ (K20-2-3 = Kantstr. 20, 2. Stock, 3. Zimmer), dem Schlafsaal, noch zu sechst „Harry Potter und der Halbblutprinz“ auf die Zimmerdecke projiziert und sind dann eingeschlafen. Heute Morgen sind sie nur noch zu zweit aufgewacht, haben sich im „Communal Closet“ (K20-2-4) dick eingepackt, um dann mit den anderen im „Dining Room“ (K20-1-3) zu frühstücken.
Um den großen braunen Holztisch sitzen neben Thore und Nathalie noch Chandi, Chrisi und Clara. Clara greift zum selbst gemachten Rote-Bete-Aufstrich. Auf dem Glas pappt ein großer Aufkleber. Dieser Aufstrich wurde in einer defekten Küchenmaschine mit einem kleinen Sprung püriert, heißt es darauf. Clara will es noch genauer wissen: „Seit wann gibt es den Sprung denn?“ „Circa seit einer Woche“, sagt Thore. „Ah, das bedeutet noch keine allzu große Bakteriengefahr“, meint Clara. Thore wendet ein, dass sich einige Bakterienstämme in 20 Minuten verdoppeln würden. Nun möchte Clara doch lieber Marmeladenbrot. Dies ist kein Morgen im Hostel, sondern im Kanthaus.
Mitten in Sachsen, in der Kreisstadt Wurzen, eine Straße hinter dem Netto, befindet sich das Wohnprojekt. Wer hier lebt, will teilen. In den meisten Wohngemeinschaften bewohnt jeder sein eigenes Zimmer, im Kanthaus teilen sich alle das gesamte Haus und dessen Zimmer. Im „Communal Sleeping Room“ schlafen bis zu zehn Menschen, der „Communal Closet“ ist ein begehbarer Kleiderschrank, in dem sich jeder mit Kleidung ausstatten kann, selbst die Unterwäsche teilen sich manche. Wem das zu viel ist, der gönnt sich Ruhe in einem „Private Room“ oder sucht sich für BHs und Boxershorts ein persönliches Fach.
„Wem du’s heute kannst besorgen“ des Songwriters Faber läuft im Hintergrund, während Silvan, João und Chrisi das Abendessen zubereiten. In der Küche gibt es kein heißes Wasser, dafür ist sie mit einem alphabetisch sortierten Gewürzregal und Oliven- bis Avocadoölen ausgestattet. Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist, die falsche Etiketten haben oder für den Supermarkt nicht perfekt genug aussehen, bekommen sie als Spende von Lebensmittelherstellern oder Läden. Manchmal geht die Gruppe auch containern, also Lebensmittel aus den Müllcontainern der Supermärkte holen. Geld für Lebensmittel geben sie nur selten aus. An diesem Abend gibt es Kartoffelwedges, einen Gemüsemix aus der Tiefkühltruhe und einen Auflauf, der auf den ersten Blick Tofu zu sein scheint, sich dann aber als Brot-Schimmelkäse-Ei-Auflauf entpuppt. Ein Zweckessen, denn von der Tafel gab es diesmal eine Menge Brot, und der Käse musste auch weg.
„Das Wohnprojekt erinnert auf den ersten Blick an eine Hippiekommune, agiert aber fast wie ein Start-up“
Mit dem Versuch, Lebensmittel zu retten, begann auch die Geschichte des Kanthauses. Gemeinsam haben sie Online-Sharing-Plattformen entwickelt, später entstand der Wunsch, die Idee des Teilens in einem analogen Projekt umzusetzen. Seit 2017 gibt es deshalb das Kanthaus, für das sechs Mitglieder ihr Geld zusammengelegt haben, um die beiden Gründerzeitbauten in Wurzen zu kaufen. 15 Menschen aus Deutschland und Europa wohnen nun hier zusammen, die „Kanthausianer“, wie sie sich selbst nennen. Vor drei Monaten kam ein sehr junger Mitbewohner dazu: Mika, der Sohn des Ehepaars Tilmann und Janina, zog vier Tage nach seiner Geburt ins Kanthaus.
Geben sich den Rest: Viele Lebensmittel im Kanthaus stammen aus Supermarkt-Containern
Wie fast alle Kanthausianer ist Mika dick angezogen: Strumpfhose, Pullover, Mütze. Denn es ist kalt; nur wenige Räume können in den alten Häusern konstant geheizt werden. Um auf das in Decken gehüllte Baby aufmerksam zu machen, hat sich Silvan etwas ausgedacht und einen orangebraunen Kegel mit leuchtenden LEDs gebaut. Steht der Kegel auf einem Polsterberg, heißt das: „Hier tarnt sich Mika. Bitte nicht draufsetzen!“
Fast alles bauen die Kanthausianer selbst; die meisten Installationen funktionieren automatisch. Ein Knopf an der Badezimmertür springt von „Frei“ auf „Besetzt“, sobald jemand den Raum betritt und die Tür hinter sich schließt. Der Wasserhahn läuft nur dann, wenn man auf ein Pedal am Boden tritt. Überall im Haus hängen Zettel, die erklären, wie was zu benutzen ist. Ein Zettel im Bad preist das neue Indoor-Kompostklo im Treppenhaus an.
Das Wohnprojekt, das auf den ersten Blick an eine Hippiekommune erinnert, agiert fast wie ein Start-up. In Zimmern, deren Wände mit bunt gemusterten Tüchern dekoriert sind, sitzen Aktivisten, die Sharing-Apps programmieren, Klimakonferenzen planen und Open-Source-Software zur Verfügung stellen. Allen geht es darum, bewusst mit Ressourcen umzugehen. „Wir wollen schon irgendwie die Welt retten“, sagt Janina fast ein bisschen schüchtern.
Trotz der liberalen Grundstimmung gibt es klare Strukturen und Hierarchien, die in einer Art Verfassung zusammengefasst sind. Wer im Kanthaus ankommt, ist zunächst Besucher und braucht einen „Host“. Nach drei Wochen Aufenthalt wird entschieden, ob der Gast weiter Besucher bleibt, Freiwilliger wird oder abreisen muss. Auch Freiwillige und Mitglieder werden in Abständen von zwei und sechs Monaten geprüft. Alle Hausbewohner haben gemeinsam die Verpflichtung, Verantwortung für den Ort zu übernehmen und einen Beitrag für Wurzen oder die restliche Welt zu leisten. Sich ein nettes Zimmer auszusuchen und auf der faulen Haut zu liegen, ist nicht gestattet.
Für Chandi sind seit seiner Ankunft sechs Monate vergangen, und es ist Zeit für eine erneute Evaluation. Mitglieder und Freiwillige treffen sich dafür im „Cloud Room“, der wegen seiner himmelblauen Einrichtung so genannt wird. Die Diskussion und die finale Wahl dauern etwa 60 Minuten. Chandi steht nun in der „Snack Kitchen“ – der etwas kleineren Küche –, macht sich ein Brot und wartet auf sein Feedback. Clara kommt mit guten Nachrichten zurück. Er hat es erneut zum Mitglied geschafft.
Im Kanthaus werden außer Essen und Kleidung auch Meinungen offen geteilt. Die meisten Kanthausianer äußern sich positiv über Chandis Offenheit, seine Differenzen mit einem anderen Bewohner konnte er in den letzten Wochen klären. Also muss sich Chandi für die nächsten sechs Monate keine Gedanken machen. Außer vielleicht, in welchem Zimmer er am Abend schlafen möchte. Die Auswahl ist groß.
Fotos: Ingmar Björn Nolting