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„Den deutschen Pass gibt es wirklich nicht geschenkt“
Wer seit vergangenem Sommer die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, muss dafür nicht mehr die alte ablegen. Für viele Menschen eine neue Möglichkeit, um politisch mitzubestimmen. Auch Ferhat bereitet sich auf seine erste Bundestagswahl vor – wie fühlt er sich dabei?
Er will seinen Stimmzettel selbst in die Urne werfen. Keine Briefwahl, das ist Ferhat wichtig. Auch wenn er noch nicht weiß, wie sich der Moment anfühlen wird, er will ihn genießen. Das Ergebnis möchte er, vielleicht ja auf einer großen Leinwand, mit dem gesamten Wahlkampfteam verfolgen. Seit Dezember arbeitet er ehrenamtlich für einen der neun Bundestagsdirektkandidaten des Bodenseekreises, wo er gerade wohnt. Für ihn wird er am kommenden Sonntag auch abstimmen. Jetzt, wo er endlich darf.
Ferhat, 20 Jahre alt, Jeans, Jutebeutel über der Schulter, grinst, als er seine Einbürgerungsurkunde aus dem Rucksack zieht. Sie ist auf blassgrünem Papier gedruckt und liegt gut geschützt in einer transparenten Hülle. Datum der Ausstellung: 9. September 2024.
„Gerne hätte ich schon viel früher gewählt“, sagt Ferhat. Er interessiert sich schon lange für Politik, las die Nachrichten und diskutierte mit Freunden. In der Oberstufe simulierte er ein Interview mit dem Bundestagsdirektkandidaten, für den er heutzutage arbeitet. Mittlerweile studiert er: Politik, Verwaltung und internationale Beziehungen.
Doch all das konnte er weder bei der Bürgermeisterwahl 2021 noch bei den Europawahlen im vergangenen Jahr einbringen. „Das hat mich frustriert. Ich wurde nicht gehört, obwohl die Entscheidungen im Land mich ja betreffen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und werde auch noch viele Jahre hier leben.“
Bis zum 27. Juni 2024 mussten Nicht-EU-Bürger, die die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, im Gegenzug ihren anderen, nichtdeutschen Pass abgeben. Viele waren zu diesem Passtausch nicht bereit. Auch deshalb hat von den knapp drei Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland etwa knapp die Hälfte keinen deutschen Pass. Im letzten Sommer trat das von der damaligen Regierung, bestehend aus SPD, Grünen und FDP, geänderte Gesetz in Kraft. Die doppelte Staatsangehörigkeit ist in Deutschland seither theoretisch für alle möglich, die sich einbürgern lassen können.
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Gute Zukunftsaussichten: Ferhat studierte an der privaten Zeppelinuniversität und will später vielleicht Botschafter werden
Praktisch warten immer noch viele auf ihren Termin bei der Ausländerbehörde. Die Nachfrage war nach der Gesetzesänderung so stark gestiegen, dass viele Kommunen Überforderung anmeldeten und Einbürgerungswillige sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Ferhat gehört zu den gar nicht mal so vielen Menschen, die von der Gesetzesänderung noch rechtzeitig vor der Wahl profitieren konnten.
Wenn er heute darüber spricht, was ihm der deutsche Pass bedeutet, dann muss Ferhat kurz stocken. Seine Eltern kamen in den 1990er-Jahren aus dem Osten der Türkei nach Deutschland. Ferhat wurde hier geboren, schrieb ein Einser-Abi, erhielt ein Stipendium und begann ein Studium.
„Ja, doch, es fühlt sich an wie die Anerkennung für meinen Fleiß, meinen Willen und meine guten Leistungen in der Schule.“
Beantragt hatte er die deutsche Staatsbürgerschaft schon im April 2022, kurz vor seinem 18. Geburtstag. Um die türkische Staatsbürgerschaf abzugeben und im Gegenzug die deutsche zu erhalten, hätte er volljährig sein müssen. Die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft gab es damals noch nicht. Bereit für den Tausch wäre er gewesen. „Meine komplette Lebensrealität spielt sich in Deutschland ab.“ Selbst um ein Praktikum beim Auswärtigen Amt zu machen, brauche er den deutschen Pass.
Dass das zweieinhalb Jahre dauern würde, damit hatte er nicht gerechnet. Auf das Landratsamt ist er deshalb nicht gut zu sprechen. „Die haben sich da gefühlt geweigert, irgendwas zu unternehmen.“ Am Ende hat er sogar eine Klage vor dem Verwaltungsgericht angestrengt, um das Verfahren zu beschleunigen. Ohne die, sagt Ferhat, hätte er seinen Pass vielleicht bis heute noch nicht.
Dadurch, dass sich der Prozess so lange hinzog, musste Ferhat letztlich seinen türkischen Pass nicht abgeben, weil in der Zwischenzeit das neue Gesetz verabschiedet wurde, das die doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt.
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In der Schule konnte seine Mitschüler:innen wählen, er nicht. Ferhat hat sich ausgeschlossen gefühlt
In der Türkei war Ferhat schon fast zehn Jahre nicht mehr. Die Erinnerungen an seinen letzten Aufenthalt dort haben ihn nie losgelassen. Im Juli 2015 besuchte er mit seiner Mutter in den Sommerferien ihre Familie in Diyarbakır. In der Metropole im Südosten der Türkei leben überwiegend Kurden, zu denen auch Ferhats Familie zählt. Zu dieser Zeit begann einer von vielen bewaffneten Konflikten zwischen dem türkischen Militär und der prokurdischen Terrororganisation PKK. Immer wieder gerieten bis Frühjahr 2016 auch Zivilisten zwischen die Fronten.
Auch er und seine Cousins erlebten beim Spielen, wie türkische Soldaten in ihre Richtung schossen. Der Vorfall beschäftigte ihn, politisierte ihn. Er begleitete seine Eltern auf Demonstrationen in ganz Deutschland und verstand, dass er sich für Menschenrechte einsetzen möchte.
Mit der Türkei gebrochen hat er dennoch nicht. Ein großer Teil seiner Familie lebt noch immer dort. Im September will er ein Auslandssemester in Istanbul machen. Dafür ist die zweite Staatsbürgerschaft praktisch, er kann dort ohne Visum leben oder wählen.
Ferhat hat lange für seinen deutschen Pass gekämpft, deshalb ist ihm das Thema Integration, neben dem Klimawandel, wichtig. Die Abschiebedebatten in Deutschland bereiten ihm Sorgen, sagt Ferhat. „Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Den deutschen Pass gibt es wirklich nicht geschenkt. Wer ihn einmal hat und straffällig wird, sollte nach dem deutschen Recht belangt werden, nicht mehr und nicht weniger.“
Sonst müsse man sich permanent als Ausländer fühlen, niemals genug integriert, immer stigmatisiert. „Gast auf Zeit eben“, sagt Ferhat. „Meine Eltern haben schon gesagt, ich solle die türkische Staatsbürgerschaft vielleicht lieber aufgeben, weil sie sich Sorgen machen. Aber das werde ich nicht tun. Ich finde das Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft gut. Und aus Angst vor einem Rechtsruck den türkischen Pass abzugeben, wäre das falsche Signal.“
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