Auszug aus "Esthers Tagebücher"

„Sie ist gleichzeitig ich … und nicht ich“

Neun Jahre lang hat der Comiczeichner Riad Sattouf das Leben einer Teenagerin begleitet. „Esthers Tagebücher“ drehen sich um peinliche Lehrer, die Proteste im Iran oder Catcalling – und sind manchmal judgy, manchmal deep und fast immer lustig

Von Michael Brake
Thema: Kultur
13. Mai 2025

Worum geht es?

Um das Leben von Esther, geboren 2005, die mit ihren Eltern und Brüdern im Zentrum von Paris aufwächst. Esther heißt eigentlich anders, aber es gibt sie wirklich. Weil ihre Eltern mit dem Comiczeichner Riad Sattouf befreundet sind, und weil Esther schon als Neunjährige ziemlich vorlaut und gut darin war, pointierte Anekdoten zu erzählen, starteten Sattouf und sie ein Projekt: Einmal die Woche berichtete Esther dem Zeichner aus ihrem Leben, und der machte daraus eine Comicseite – bestenfalls, bis sie volljährig ist. Daraus wurden schließlich mehrere Comicbände, von denen nun der letzte auch auf Deutsch erschienen ist: „Esthers Tagebücher, Teil 9: Mein Leben als Achtzehnjährige“.

Okay, und um was genau geht es da jetzt?

Um alles, was ein 9-, 10-, 11-, …, 18-jähriges Mädchen aus der weißen französischen Mittelschicht so umtreibt. Wie sie sich mit ihrer besten Freundin auseinanderlebt und die beiden wieder zusammenfinden. Wie nervig es ist, dass ihr Vater (den sie eigentlich sehr liebt) ihr so wenig Screentime erlaubt. Wie der Nebenjob als Babysitterin läuft. Es geht um peinliche Lehrer, ausfallende Milchzähne, neue TikTok-Tänze, erste Liebschaften und, mit zunehmendem Alter, leider und selbstverständlich auch um aufdringliche Männerblicke und -sprüche. Dazu kommen abseitige Gedanken von Esther, etwa eine Liste ihrer Nicht-Wunschberufe oder wie es wohl war, im Mittelalter zu leben. Auch das Weltgeschehen – Greta Thunberg, die feministischen Proteste im Iran, die Präsidentenwahl in Frankreich, der Tod des Rappers XXXTentacion – bricht immer wieder in die Tagebücher ein und wird von Esther kommentiert. Mal ist das unfreiwillig komisch, weil sie die News eher so halb mitbekommen hat, mal ernst, etwa wenn die islamistisch motivierten Morde an französischen Lehrern oder der Kriegsbeginn in der Ukraine ihr Angst machen.

Auszug aus "Esthers Tagebücher"

Wie wird das erzählt?

Auf DIN-A4-Seiten, die meist in zwölf kleine Panels unterteilt sind, mitunter aber auch nur ein großes Bild zeigen. Dabei ist Riad Sattouf ziemlich textlastig unterwegs: Oben im Bild steht stets Esthers Erzählstimme, quasi der namengebende Tagebucheintrag, der mit LOLs und Ergänzungen in Klammern erzählt ist. Zusätzlich sind in den Zeichnungen noch jede Menge kleine Halbsätze mit Pfeilen ergänzt, meist trockene bis selbstironische Kommentare von Esther zum Geschehen. Die eigentlichen Zeichnungen sind reduziert: Sattouf verwendet klare und schnelle Striche, von denen wenige reichen, um lebendige und wiedererkennbare Gesichter zu erzeugen. Auch die Hintergründe bestehen nur aus dem Nötigsten – und doch ist alles sehr lebendig.

Ist das denn authentisch?

Ein klares Jein! Fest steht: Riad Sattouf hat Esthers Geschichten dramaturgisch verdichtet und sie dabei noch so weit verfremdet, dass Esther und alle anderen Figuren auf keinen Fall erkannt werden können. „Es ist kein Spiegel aus Papier“, hat Sattouf uns auf Nachfrage erzählt. „Das ist auch gut für ihr psychologisches Gleichgewicht und ein Schutz: Die Figur ist eine Fiktion.“ Was bedeutet, dass die Comicreihe immer auch den Blick eines fast 30 Jahre älteren Mannes transportiert. Klar ist aber auch: Die Themensetzung und Esthers Sprecherinnenstimme klingen ziemlich unverstellt. Und immerhin hat Esther das Projekt nie abgebrochen, was heißen dürfte, dass sie sich ganz gut getroffen fühlt. Wobei sie bei weitem keine perfekte Heldin ist: Gerade in jüngeren Jahren kann sie ziemlich judgy und egoistisch sein. Die fertigen Comicseiten jedenfalls waren auch für Esther dann eine Überraschung, die laut Riad Sattouf über ihre Figur gesagt hat: „Sie ist gleichzeitig ich … und nicht ich.“

Auszug aus "Esthers Tagebücher"

Lohnt sich das?

Unbedingt! Sattouf ist ein großartiger Erzähler, Esther liefert tolles Material, und das Ergebnis ist sehr unterhaltsam und oft auch lustig. Dadurch kommen die ernsteren Folgen, in denen es etwa um Catcalling, um politische Themen, um Einsamkeit oder andere Existenzfragen geht, umso wirkungsvoller zur Geltung. Weil „Esthers Tagebücher“ eben kein belehrender „Hier geht es jetzt um Sexismus/Tod/Rechtsradikale, passt mal gut auf“-erhobener-Zeigefinger-Comic ist, sondern die schweren Themen schlicht als Teil des Lebens geschildert werden, denen man irgendwie begegnen muss.

 

„Esthers Tagebücher 9: Mein Leben als Achtzehnjährige“ ist im Reprodukt-Verlag erschienen, so wie auch die anderen acht Bände der Reihe.

 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.

Abbildungen: Reprodukt-Verlag / Riad Sattouf