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„Sie unterwandern schleichend, sehr dezent“

In keinem europäischen Land außerhalb Italiens ist die kalabrische Mafia so stark vertreten wie in Deutschland. Die Mafiaforscherin Zora Hauser erklärt, warum – und wie die ’Ndrangheta hier versucht, Kontakte zur Politik zu knüpfen

Eine kleine Gedenktafel hängt am 23.08.2007 an einem Baum vor dem Lokal "Da Bruno" in Duisburg

fluter.de: Frau Hauser, Sie haben an der Universität Oxford mit einer Doktorarbeit über die kalabrische Mafia ’Ndrangheta in Deutschland promoviert. Warum haben Sie dieses Thema ausgesucht?

Zora Hauser: 2007 sind sechs kalabrische Männer vor einem Restaurant in Duisburg ermordet worden. Es war der Höhepunkt einer Fehde zwischen Mafiafamilien, die in Kalabrien angefangen und sich nach Deutschland ausgebreitet hatte. (Unser Titelbild zeigt eine Gedenktafel vor dem Lokal, Anm. d. Red.) Seitdem schaut man in Deutschland aufmerksamer auf das Mafiaproblem. Und trotzdem war die ’Ndrangheta im Jahr 2017, als ich mit meiner Doktorarbeit angefangen habe, so gut wie nicht erforscht. Zehn Jahre nach den Duisburger Morden! Und das in dem Land in Europa, in dem die ’Ndrangheta außerhalb Italiens am geschäftigsten ist.

Haben Sie eine Erklärung, warum das so ist?

Um in Deutschland zur ’Ndrangheta zu forschen, muss man Italienisch und Deutsch sprechen. Und sich Zugang zu Ermittlungsakten und Daten verschaffen. Das ist in Deutschland nicht einfach. Ich habe das Bundeskriminalamt und Landeskriminalämter kontaktiert und um Unterlagen gebeten, meist erfolglos. Die deutsche Gesetzgebung macht es schwierig, Dokumente wie Haftbefehle oder Abhörprotokolle für die Öffentlichkeit bereitzustellen. Wenn man die ’Ndrangheta besser verstehen will, müsste man solche Daten aber für die Forschung zugänglich machen.

„Italiener sagen, über die Mafia spricht man nicht. Eine ähnliche Hemmung herrschte auch in den deutschen Kleinstädten, in denen ich nachgefragt habe“

Kann man nachvollziehen, seit wann ’Ndrangheta-Mitglieder in Deutschland leben?

Die ersten Mafiosi sind schon in den 1960er-Jahren nach Deutschland gekommen, in den 1970er-Jahren wurden die ersten ’Ndrangheta-Zellen aufgebaut. Die meisten sind bis heute aktiv.

Im Jahr 2021 lebten laut Bundeskriminalamt 505 ’Ndrangheta-Mitglieder in Deutschland.

Es gibt da allerdings hohe Dunkelziffern. Die Bundesregierung hat die Zahl in Deutschland zuletzt auf rund 1.000 ’Ndranghetisti geschätzt.

Es wird oft behauptet, die ’Ndrangheta sei gemeinsam mit den Arbeitsmigrantinnen und -migranten gekommen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren gezielt von Deutschland angeworben wurden, um den Arbeitskräftemangel in der Nachkriegszeit auszugleichen.

Es gibt dazu zwei Thesen, die immer wieder geäußert werden, sich aber widersprechen. Die eine: Die ’Ndrangheta ist eine unvermeidliche und direkte Konsequenz italienischer Migration. Die andere ist, dass ihre Mitglieder den Weg ins Ausland strategisch geplant haben.

Und welche These stimmt?

Keine von beiden. Es gibt keinerlei Hinweis, dass die ’Ndrangheta systematisch gewisse Regionen unterwandern wollte. In erster Linie haben die Mafiosi Kalabrien wohl aus ganz individuellen Gründen verlassen. Weil die Polizei nach ihnen fahndete und sie für eine Weile untertauchen wollten, zum Beispiel. Ich habe mich mit einem Mafiaclan beschäftigt, dessen Chef in den 70er-Jahren nach Hessen kam. Er hatte seinen eigenen Boss in Kalabrien umgebracht und Angst, dessen Familie würde sich rächen.

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Beweisstück der Polizei Duisburg (Foto: picture-alliance/ dpa | Polizei Duisburg)
Eines der Beweisstücke von den Duisburger Morden 2007: Die Darstellung zeigt den heiligen Gabriel, den Schutzpatron der italienischen Polizei. Sein Gesicht wegzubrennen ist eines der Aufnahmerituale in der ’Ndrangheta (Foto: picture-alliance/ dpa | Polizei Duisburg)

Wissen Sie, wieso er ausgerechnet nach Deutschland gegangen ist?

Weil er dort Verwandte hatte. Hätte er Familie in der Schweiz gehabt, wäre er wahrscheinlich dorthin gegangen. In diesem Zusammenhang spielt die gezielte Arbeitsmigration also schon eine Rolle.

Hat der Mann seine Geschäfte aus Italien mitgenommen?

Er hat die kriminellen Aktivitäten seiner Gruppierung über Jahre ausgelagert und in Deutschland eine Mafiazelle aufgebaut. Heute sitzt er in Italien in Haft, aber seine Gruppierung ist nach wie vor in Deutschland aktiv.

Sie haben viel vor Ort geforscht, in Regionen wie Thüringen und Nordhessen, wo die kalabrische Mafia stark vertreten ist. Wie reagieren die Leute, wenn Sie sie zur ’Ndrangheta befragen?

Italiener sagen, über die Mafia spricht man nicht. Eine ähnliche Hemmung herrschte auch in den deutschen Dörfern und Kleinstädten, in denen ich nachgefragt habe. Ich wollte wissen, wie es für sie war, als die Polizei mehrere Nachbarn wegen Mafiamitgliedschaft festgenommen hat.

Aber?

Entweder haben die Leute behauptet, sie würden die Verhafteten nicht kennen, was unwahrscheinlich ist in einem kleinen Dorf. Oder sie haben mir gesagt: „Das ist doch der liebe Gastwirt um die Ecke, der ist sicher kein Mafioso.“

Sie haben auch den Kontakt zu den Ämtern gesucht und mit Bürgermeistern gesprochen.

Aus Polizeiakten wusste ich, dass Bürgermeister sowohl in Hessen als auch in Thüringen mit mutmaßlichen Mafiosi zu tun gehabt hatten. Auch da wurde ich überrascht: Die Bürgermeister schienen jedes Anzeichen zu ignorieren, das auf unsaubere Geschäfte hindeutete.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Da war ein Kellner aus Kalabrien, der in einem Städtchen ein Restaurant pachtet – und kurz darauf für teures Geld renoviert. Da würde ich mich als Bürgermeister schon fragen: Woher hat ein einfacher Kellner plötzlich so viel Kapital? Und vor allem: Warum investiert er massiv in ein Restaurant, das ihm nicht gehört?

Man kann annehmen, dass er über die Renovierung Geld aus anderen Geschäften gewaschen hat.

Das Investment macht zumindest wirtschaftlich wenig Sinn.

„In kleinen Städten ist es leichter, Kontakt zur lokalen Politik aufzubauen. Zudem ist in einer Großstadt die kriminelle Konkurrenz viel größer“

Haben Sie eine Erklärung, warum sich die ’Ndrangheta oft in kleineren Städten niederlässt?

In einer Großstadt ist die kriminelle Konkurrenz viel größer. Dazu ist es in kleinen Städten leichter, Kontakt zur lokalen Politik aufzubauen. Man hat schneller einen Draht zum Bürgermeister eines Städtchens in Nordhessen als zur Bürgermeisterin von Berlin. Und unauffällig zu bleiben funktioniert auch ganz gut in einem Dorf, in dem man gut integriert ist. Aber die kriminellen Aktivitäten finden auch in Großstädten statt.

Was macht die ’Ndrangheta überhaupt in Deutschland?

Die ’Ndrangheta hat viele Zellen, die sich zum Teil auf verschiedene kriminelle Aktivitäten konzentrieren. Im Prinzip machen sie alles, was Profit bringt. Manche Zellen importieren über die Häfen in Hamburg, Rotterdam und Antwerpen große Mengen Kokain aus Südamerika. Sie erpressen andere Gastwirte. Sie waschen das Geld, das aus diesen illegalen Aktivitäten stammt, oder zweigen Gelder aus der legalen Wirtschaft ab.

In Italien kann sich die ’Ndrangheta vor allem auf ihre engen Beziehungen zur Politik verlassen. Sehen Sie die Gefahr, dass die ’Ndrangheta auch in Deutschland Teile der Politik unterwandern könnte?

Ich würde das nicht ausschließen. Auf der einen Seite ist die ’Ndrangheta in Deutschland nicht dieselbe wie in Kalabrien. Zu behaupten, sie wäre in Deutschland genauso mächtig, wäre weder richtig noch fair gegenüber den Italienern, die in Kalabrien unter der ’Ndrangheta leiden.

„Politisch passiert nicht viel, die ’Ndrangheta ist da ganz klar keine Priorität. Aber aufseiten der Polizei ist das Interesse gewachsen“

Gleichzeitig sehen Sie ähnliche Dynamiken in der Unterwanderung der legalen Wirtschaft.

Allerdings. Nehmen wir noch mal das klassische Beispiel: Ein Mafioso eröffnet ein Restaurant und sucht den Kontakt zur lokalen Politik. Dass er diese Verbindungen aufbaut, kann niemand verneinen. Aber dafür, dass er vielleicht Politiker besticht, damit sie wegschauen, fehlen dann die Belege. Das ist übrigens eine Besonderheit der ’Ndrangheta: Sie ist zwar gewaltbereit, ’Ndranghetisti sind beileibe nicht nur Leute, die still und friedlich ihr Geld waschen. Aber sie unterwandern in der Regel schleichend, sehr dezent. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum in Deutschland immer noch unterschätzt wird, welche Gefahr von ihr ausgeht. Es ist ja auch die Frage, wie sich das entwickelt. Wir sollten nicht vergessen, dass die ’Ndrangheta in Italien seit 150 Jahren aktiv ist, in Deutschland erst seit 50.

Unternehmen die Politik und deutsche Sicherheitsbehörden genug dagegen?

Politisch passiert nicht viel, die ’Ndrangheta ist da ganz klar keine Priorität. Aber aufseiten der Polizei ist das Interesse gewachsen. Das bedeutet, dass die Personen, die sich direkt mit dem Phänomen auseinandersetzen, die Notwendigkeit sehen, es zu verstehen und mehr dagegen anzugehen als bisher. In der Politik sehe ich das nicht – mit Ausnahme des Mafia-Untersuchungsausschusses im Thüringer Landtag vielleicht.

Sie sind dort 2021 als Expertin aufgetreten. Der Ausschuss soll klären, ob die operativen Maßnahmen eines langwierigen Ermittlungsverfahrens gegen eine ’Ndrangheta-Zelle in Thüringen in den 2000er-Jahren voreilig eingestellt wurden. Dabei geht es auch um die Frage, welche Kontakte die mutmaßlichen Mafiosi in die Politik pflegten.

Es ist der erste Ausschuss dieser Art in Deutschland, in Thüringen sehe ich zumindest den Keim eines politischen Interesses. Auf Bundesebene passiert aber leider nicht viel. Dabei werden dort die Gesetze gemacht, die es nicht nur ’Ndrangheta-Mitgliedern, sondern allen kriminellen Gruppierungen schwerer machen, in Deutschland zu agieren.

Was muss passieren?

Man sollte Geldwäsche systematischer, langfristiger und effektiver bekämpfen. Zum Beispiel mit einer Bargeldobergrenze, wie es die EU gerade plant. Oder mehr Transparenz in den Grundbüchern. Außerdem sollte man der Polizei die Mittel für strukturelle Ermittlungen geben, die sehr aufwendig sind. Ohne das Interesse der Politik kann sie kriminelle Netzwerke kaum systematisch verfolgen. Und nicht zuletzt muss ich als Wissenschaftlerin natürlich sagen, dass man das Phänomen ’Ndrangheta genauer untersuchen sollte, um zu verstehen, wie die Zellen in Deutschland agieren. Man muss sie gut kennen, um sie zu sehen. Und noch besser, um sie zu bekämpfen.

Zora Hauser forscht an der Universität Oxford zur Ausbreitung der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta in Deutschland. (Foto: privat)

Titelbild: Franz-Peter Tschauner / picture alliance / dpa

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