Als im Sommer 2015 mehr und mehr Menschen über das Mittelmeer flohen, offenbarten das europäische Asylsystem und die Dublin-Verordnung ihre Schwächen: Einen Großteil der Last tragen Staaten wie Griechenland und Italien, die direkt am Mittelmeer liegen. Als Länder, in denen die Geflüchteten die EU zuerst betreten, sind sie derzeit automatisch zuständig für die Bearbeitung der Asylanträge. Viele Staaten wollen diese Regelung reformieren, um die Mittelmeerländer zu entlasten. Andere wiederum, insbesondere die Visegrád-Gruppe (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen), wollen sich nicht verpflichten lassen, Geflüchtete aufzunehmen. Und verstießen damit zum Teil gegen EU-Recht (Update, 02. April 2020).
Die Dublin-Verordnung regelt die Prüfung eines Asylantrags. Sie greift erst, wenn eine Person einen EU-Staat betritt – hat also nichts damit zu tun, wie Asylbewerber*innen in die EU kommen.
Eine Übergangslösung hatten erst im September Frankreich, Italien, Malta und Deutschland vereinbart: Sie wollen Geflüchtete aus Seenotrettung innerhalb eines Monats untereinander verteilen. Diese „Koalition der Willigen“ warb allerdings vergeblich um weitere Mitglieder und ist nur eine temporäre Lösung. Wie kann das System dauerhaft reformiert werden? Wir stellen fünf Ideen vor:
EU-Kommission: Der Schlüssel
Laut der EU-Kommission soll künftig ein Referenzschlüssel festlegen, wie viele Asylanträge ein Mitgliedsstaat bearbeiten muss. Dieser Schlüssel soll sich aus dem Bruttoinlandsprodukt und der Bevölkerungsgröße des Staates errechnen. Außerdem sollen verschiedene Schritte des Dublin-Verfahrens beschleunigt werden – und die Staaten für einen Asylantrag zuständig bleiben, auch wenn sie die Fristen nicht einhalten konnten.
Um die EU-Staaten damit nicht zu überfordern, sieht dieser Reformvorschlag auch einen Korrekturmechanismus vor. Er tritt in Kraft, wenn die Zahl der Asylanträge, für die ein Staat zuständig ist, die Zahl des Referenzschlüssels um 150 Prozent übersteigt. Die überschüssigen Anträge werden dann an Staaten weitergeleitet, deren Antragszahl unter ihrem Referenzschlüssel liegt. Beteiligt sich ein Mitgliedstaat nicht, soll er 250.000 Euro pro Antragsteller*in an den Mitgliedstaat entrichten, der für diesen Antrag zuständig ist.
LIBE: Eure Wahl
Der LIBE-Ausschuss (siehe roter Kasten) schlägt vor, Asylanträge künftig von einem EU-Land bearbeiten zu lassen, zu dem die geflüchtete Person bereits Verbindungen hat. Das können dort lebende Familienangehörige oder Sprachkenntnisse sein.
LIBE ist der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments. Er ist zuständig für den Schutz der Bürger- und Grundrechte innerhalb der EU und befasst sich auch mit Gleichstellungs- und Migrationspolitik.
Und wie mit Asylbewerber*innen umgehen, die keine Präferenz für ein Land angeben? Sie sollen zwischen den vier Staaten wählen dürfen, die zum jeweiligen Zeitpunkt anteilig die wenigsten Asylanträge angenommen haben. Der Anteil errechnet sich – wie im Vorschlag der EU-Kommission – über das Bruttoinlandsprodukt und die Bevölkerungszahl. Verweigert ein Staat die Aufnahme und zahlt keine Ausgleichsabgabe, soll ihm der Zugang zu EU-Geldern (in entsprechender Höhe) gekürzt werden. Grenzstaaten sollen verpflichtet sein, Asylbewerber*innen zu registrieren. Verweigern sie dies, werden Geflüchtete nicht in andere Staaten weiterverteilt.
Die Daten der Bewerber*innen sollten bei der Einreise allerdings mit europäischen und nationalen Datenbanken abgeglichen werden. Sollte dieser Abgleich eine*n Asylbewerber*in als Sicherheitsrisiko ausweisen, wird auch er nicht in einen Zweitstaat übermittelt. Der „abgebende“ Staat muss sich um die Person kümmern – was sich wiederum nachteilig für die Mittelmeerländer auswirken könnte.
Die Migration zwischen EU-Ländern wird Sekundärmigration (oder Binnenmigration) genannt. Ein Beispiel: Ein*e Geflüchtete*r kommt in Griechenland an und reist über Ungarn nach Deutschland, um dort Asyl zu beantragen.
Der LIBE-Vorschlag sieht auch eine Option zur Gruppenregistrierung vor: Personen können sich bei der Einreise innerhalb einer Gruppe von maximal 30 Personen registrieren lassen. Diese Bewerber*innen sollen dann gemeinsam innerhalb der EU verteilt werden und ihre Asylanträge stellen können. So blieben persönliche Kontakte und Netzwerke erhalten und Sekundärmigration die Ausnahme, schreibt der LIBE-Ausschuss.
Wissenschaftler*innen: Alles auf Null
In einer Studie für den LIBE-Ausschuss kritisieren Migrationswissenschaftler*innen die Dublin-Verordnung: Sie funktioniere als Verteilungsmechanismus grundsätzlich nicht, weil es zu wenig sichere und legale Möglichkeiten gibt, in die EU einzureisen und einen Asylantrag zu stellen.
Ihre Argumentation: Wenn man legale Wege zur Einreise schafft, verteilt sich die Last automatisch auf verschiedene Länder, weil die Menschen viele Häfen, Flughäfen oder Landgrenzen zur Einreise nutzen können – und nicht den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer antreten müssen. Eine legale und sichere Einreise könne beispielsweise über die Ausstellung humanitärer Visa gelingen.
Die Wissenschaftler*innen kritisieren: Das, was die Dublin-Verordnung Sekundärmigration nennt und verhindern will, sei eigentlich der Versuch, ein faires Asylverfahren zu bekommen. Deshalb sollen die Asylbewerber*innen bei der Wahl des aufnehmenden Staates Mitspracherecht haben.
Mittelmeerländer: Am Rand
In einer gemeinsamen Erklärung zeigen sich Zypern, Griechenland, Malta, Italien und Spanien prinzipiell einverstanden mit einem Verteilungsschlüssel, wie ihn EU-Kommission und LIBE vorschlagen.
Was wird eigentlich in einer Asylanhörung gefragt? Wie lange dauert sie, welchen Stellenwert hat die Anhörung für den Asylantrag und wer ist beteiligt? Wir haben die wichtigsten Antworten
In die Berechnung ihres Anteils an zu bearbeitenden Asylanträgen soll allerdings auch einfließen, welche Anstrengungen die Staaten in der Vergangenheit bereits unternommen haben. Das würde mindestens die Länder entlasten, die aufgrund ihrer geografischen Lage – etwa an den EU-Außengrenzen – bislang stärker belastet wurden.
NGOs: Free Choice!
Eine Gruppe deutscher NGOs leiht sich ihre Reformidee beim UN-Kommissariat für Flüchtlingsfragen. Das hatte schon 1979 empfohlen, die Wünsche von Asylbewerber*innen bei der Verteilung zu berücksichtigen. Laut den NGOs sollte eine geflüchtete Person frei entscheiden dürfen, in welchem Land sie ihren Asylantrag stellen möchte – das fördere langfristig die Integration. Damit sprechen sich die NGOs deutlich gegen einen verpflichtenden Verteilungsschlüssel aus.
Nur: Bereits jetzt werden 28 Prozent aller Asylanträge innerhalb der EU in Deutschland gestellt. Der Free-Choice-Ansatz könnte das Ungleichgewicht zwischen den europäischen Mitgliedstaaten noch vergrößern. Um dem entgegenzuwirken, wollen die NGOs alle EU-Staaten motivieren, die Strukturen für die Flüchtlingsaufnahme zu schaffen. Etwa, indem sie weniger Beitrag zum EU-Haushalt zahlen oder über einen Kompensationsfonds direkt finanziell entlohnt werden. Über dessen Kapital und Finanzierung gibt es bislang noch keine Angaben.
Titelbild: Martina Bacigalupo/VU/laif