Worum geht’s?
Die 14-jährige Kreuzbergerin Nora (Lena Urzendowsky) ist still, nachdenklich, noch etwas kindlich. Sie hält in Weckgläsern große bunte Raupen, teilt sich ein Zimmer mit ihrer älteren Schwester Jule und ist auch sonst meistens in deren Schlepptau unterwegs. Ihre alleinerziehende Mutter ist mehr in ihrer Stammkneipe als zu Hause und für die beiden Mädchen eine permanente Enttäuschung. Im Sommer 2018 – der heißeste der Berliner Geschichte – emanzipiert sich Nora in nur wenigen Wochen von Jule, deren Leben sich vor allem um Jungs, Hip-Hop und Abnehmtutorials dreht. Der erste Joint, die erste Periode, das erste Mal verliebt, der erste Kuss: Nora entdeckt, dass sie anders ist, alternativer, poetischer. Und: dass sie auf Mädchen steht.
Wie wird’s erzählt?
Flirrend wie ein heißer Sommertag und von der ersten Sekunde an intensiv. Die Kamera ist so unruhig wie die Gefühle der Figuren, das Filmformat ungewohnt unbreitwandig, fast retrohaft wirken die Bilder, die Regisseurin Leonie Krippendorff in ein warmweich-gelbstichiges Licht taucht. In kurzen Episoden schiebt sich der Film voran: ein nächtlicher Einbruch ins Freibad; ein kurzer Mutter-Tochter-Talk am Küchentisch darüber, wie sexy sich Frauen kleiden sollten; Masturbation in der Umkleidekabine; Schulunterricht, Party, Quatschen, diesdas. Erzählt wird dabei konsequent aus weiblicher Perspektive, die halb erwachsenen Jungs sind nur lustig-pubertäre Stichwortgeber und Staffage.
Während der Berlinale 2020 haben wir Schauspielerinnen und Regisseure für Kurzinterviews getroffen – unter anderem Lena Urzendowsky und „Kokon“-Regisseurin Leonie Krippendorf
Und was soll uns das sagen?
Sei du selbst! Finde deinen eigenen Weg! Jeder Mensch ist eine einzigartig tolle Persönlichkeit! Und aus jeder Raupe wird ein wunderschöner Schmetterling! Die Moral von Coming-of-Age-Filmen ist meistens nicht die alleroriginellste. Aber wen kümmert das, wenn es so schön, so federleicht entrückt und doch schwer berührend erzählt ist wie in „Kokon“?
Good Job!
Die Unverstelltheit, mit der Noras erste Regelblutung behandelt wird. Ein Tabu sollte das schließlich wirklich nicht sein. Und natürlich sehen wir Blut, und natürlich schaut sich Nora Influencer-YouTube-Tutorials an, um alles über Tampons und Binden zu lernen.
Schwierig:
Wenn man unbedingt etwas kritisieren möchte, dann ist es das etwas abgegriffene namengebende „Verpuppung/Metarmorphose“-Motiv. Das im Film extra noch mal visualisiert wird, damit es auch der und die Letzte kapiert.
Taschentuchmoment:
Im Sexualkundeunterricht sollen einige Schüler*innen für ein paar Tage eine „lebende“ Baby-Simulationspuppe übernehmen. Auch Jule macht mit, kümmert sich sogar nachts ums Baby. Als sie eines Nachmittags mit Nora aus dem Freibad kommt, schreit die Puppe – die Mutter wollte aufpassen, ist aber in ihre Stammkneipe gegangen. Jule bricht in Tränen aus. Sie hatte gehofft, die Babypuppe könnte den Kreislauf durchbrechen. Nora tröstet sie und sagt ganz erwachsen: „Ich schieb uns jetzt erst mal eine Pizza in den Ofen.“
Gut zu wissen
Regisseurin Leonie Krippendorff, 34, ist in Berlin aufgewachsen. Ihre Kindheit und Jugend dort beschreibt sie als „eine Zeit der absoluten Freiheit“. Sie ist froh, dass es damals noch keine sozialen Netzwerke gab, denn die „Identitätsfindung in der Pubertät ist schon ohne die permanente mediale Sichtbarkeit schwierig genug“.
Ideal für …
… alle, die (noch) wissen, wie sich die Pubertät anfühlt. Und all jene, die eine kleine Auffrischung brauchen.
„Kokon“ feierte auf der Berlinale Premiere – weshalb wir den Film auch schon im Februar besprochen haben – und läuft ab sofort in den Kinos.
Titelbild: Martin Neumeyer/JOST HERING FILME