Die Ukraine ist ein Land in der Mitte Europas. Lange war das eine vergessene Mitte. Denn über Jahrzehnte wurde Europa vom Westen her gedacht. Dabei geriet der Osten, oder was man dafür hielt, in den Schatten der Aufmerksamkeit. Auch in Deutschland waren Politik und Wirtschaft Moskau näher als Kyjiw. Mit dem Angriffskrieg Russlands ist es mit dieser bequemen Ignoranz vorbei.
Jetzt werden wir Zeugen einer grenzenlosen Brutalität. Von Beginn an richtete sich der russische Terror auch gegen die Zivilbevölkerung, er bringt Folter, Vergewaltigung, Morde, die Zerstörung ziviler Infrastruktur. Vor unseren Augen tobt ein Vernichtungskrieg. Die russische Propaganda feiert die imperialistische Gewalt mit ihrem eigenen dialektischen Nihilismus: Wovon behauptet wird, dass es nicht existiert – in diesem Fall eine unabhängige Ukraine –, das muss mit aller Gewalt erst zerstört werden. Für die Vernichtung des anderen Landes wird auch vor Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht Halt gemacht. Das Ungeheuerliche dieser Aggression ist dabei auch ein Zeichen der inneren Leere des angreifenden Imperiums.
Und es gibt sie doch – die ukrainische Nation, ihre vielfältige Gesellschaft und ihren demokratischen Staat. Nicht nur die Angreifer waren überrascht von der anhaltenden Wehrhaftigkeit der ukrainischen Gesellschaft und ihrer Armeen. Sie ist verwurzelt in einer kritischen und lebendigen Zivilgesellschaft. Bestes Zeugnis geben die Menschen, die sich wehren, sich immer wieder neu organisieren. Direkt nach Kriegsbeginn zeigte sich ihre Solidarität miteinander: Sie gründeten Nachbarschaftshilfen und Bürgerwehren, organisierten Hilfstransporte, Lebensmittel und medizinische Versorgung. Und auch jetzt, nach mehr als einem Jahr Krieg im ganzen Land, übernimmt die Zivilgesellschaft weiter wichtige Aufgaben, von der Dokumentation und Aufarbeitung der Kriegsverbrechen bis hin zur Schaffung eines Gedenkens für die Opfer.
Dieses Heft ist eine Momentaufnahme, eine Annäherung an die Gesellschaft und die Menschen der Ukraine. Ihr Kampf um die Selbstbehauptung ist bewundernswert. Sie verbinden das Ringen um ein lebenswertes und demokratisches Land mit einem europäischen Traum, der anders aussieht als das, was ihnen unter Putins Herrschaft droht. Jeder von uns kann sich dazu auch selbst einfache Fragen stellen: Was wärst du bereit zu tun? Was tust du, wenn deine Nachbarin angegriffen wird?
Der Krieg gegen die Ukraine und ihre Menschen hält mit unverminderter Brutalität an. Wie auch immer diese Katastrophe ausgeht, ihre Folgen werden uns auf lange Zeit beschäftigen. Wer jetzt von Freiheit und Solidarität in Europa spricht, wird von der Ukraine und ihren Menschen nicht schweigen können.