Der wievielte Brexit-Day ist das noch mal?
Der vierte. Ursprünglich sollte das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 die EU verlassen, genau zwei Jahre nach dem Beginn der Austrittsverhandlungen und fast drei Jahre nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016. Weil die damalige Premierministerin Theresa May es bis Ende März 2019 nicht schaffte, im britischen Unterhaus eine Mehrheit für ihren Brexit-Deal zu bekommen, wurde der Brexit zunächst bis zum 22. Mai und dann noch einmal bis zum 31. Oktober verschoben – mit der Konsequenz, dass die Briten im Mai an der Europawahl teilnahmen, aus der die Brexit-Party von Nigel Farage als stärkste Kraft hervorging. Anschließend trat Theresa May zurück, und ihr Nachfolger Boris Johnson beantragte – wenn auch widerwillig – weiteren Aufschub bis zum 31. Januar 2020.
Warum klappt es jetzt mit dem Brexit?
Weil Boris Johnson den Austrittsvertrag mit der EU noch einmal nachverhandelt hat und seine Tories bei den Neuwahlen des britischen Parlaments im Dezember 2019 die absolute Mehrheit geholt haben. Noch vor Weihnachten stimmte das Unterhaus schließlich mit 358 zu 234 Stimmen für das überarbeitete Abkommen.
Wie sieht der Deal aus, den Johnson und die EU ausgehandelt haben?
Abgespeckt, da nur 198 Seiten lang (die erste Version des Austrittsvertrags hatte noch fast 600 Seiten) – aber okay, die sind sehr klein gedruckt.
Und inhaltlich? Was passiert zum Beispiel mit der irisch-nordirischen Grenze?
Johnson hat den umstrittenen „Backstop“, den Aspekt, über den sich Großbritannien und die EU in den Verhandlungen zuvor nicht hatten einigen können, in seiner bisherigen Form verhindert. Was das noch mal war? Der „Backstop“ sollte verhindern, dass es an der neuen EU-Außengrenze zwischen Nordirland und Irland zu Kontrollen kommt. Denn eine „harte Grenze“, so die Befürchtung, könnte den Nordirlandkonflikt wieder aufflammen lassen. Darum sollte entweder das Vereinigte Königreich oder zumindest Nordirland in der Zollunion bleiben, solange es noch kein Handelsabkommen mit der EU gibt. Die Brexit-Hardliner wollten das nicht, weil das Vereinigte Königreich dann weiterhin an EU-Regeln gebunden wäre. Die EU hatte derweil stets auf einer Lösung beharrt, die eine offene Grenze gewährleisten würde.
Der neue Deal sieht Folgendes vor:
- Das Vereinigte Königreich, inklusive Nordirland, verlässt die Zollunion. Trotzdem sollen für den Handel teilweise weiter EU-Regeln gelten.
- Auf Waren, die von außerhalb der EU nach Nordirland kommen und dort bleiben oder für andere Teile des Königreichs bestimmt sind, werden britische Zölle erhoben.
- Sollen sie von Nordirland aus nach Irland gelangen, also in den EU-Binnenmarkt, werden EU-Zölle fällig.
Damit haben beide Seiten Teilsiege erstritten: die EU eine offene Grenze auf der irischen Insel und Johnson einen Deal ohne Backstop. Zusätzlich gibt es eine Extrawurst für Nordirland: Vier Jahre nach Ende der Übergangsphase soll das nordirische Regionalparlament darüber abstimmen können, ob es diese Regelung weiter beibehalten will oder nicht.
Welche Punkte sind noch besonders wichtig?
Geld, natürlich. Das Abkommen schreibt vor, dass das Vereinigte Königreich alle finanziellen Verpflichtungen, die es während seiner EU-Mitgliedschaft eingegangen ist, noch wahrnehmen muss – auch dann, wenn es dabei zum Beispiel um Maßnahmen oder Projekte geht, die erst nach dem 31. Januar 2020 oder nach der Übergangsphase realisiert werden. Die genaue Summe muss noch berechnet werden, am Ende könnten es aber bis zu 45 Milliarden Euro sein. Außerdem wurden noch andere, kleinere Unterpunkte geregelt. Drei Beispiele gefällig?
- Der Status des britischen Überseegebiets Gibraltar. Spanische Pendler*innen dürfen dort weiter arbeiten, und Spanien muss in künftige Gibraltar-Verhandlungen zwischen EU und UK einbezogen werden,
- Der Umgang mit Atommüll. Wenn das ursprüngliche Material im Vereinigten Königreich erzeugt wurde, muss sich das Land selbst um den Müll kümmern, auch wenn der gerade in einem EU-Land rumliegt.
- Das Verfahren für geschützte EU-Herkunftsbezeichnungen. Auch in Zukunft darf das Vereinigte Königreich nur in Salzlake gereiften Schafs- oder Ziegenkäse aus Griechenland „Feta“ nennen, dasselbe gilt für Parmaschinken und Co. Alle Herkunftsbezeichnungen, die nach dem Brexit geschützt werden, können den Brit*innen aber egal sein.
Müssen jetzt alle Britinnen aus der EU und alle EU-Bürger aus Großbritannien ausreisen?
Nein. Alle Brit*innen, die in einem EU-Staat, und alle EU-Bürger*innen, die in Großbritannien leben, dürfen nach dem Brexit weiterhin dort bleiben, arbeiten oder studieren. Das gilt auch für alle, die bis zum 31. Dezember 2020 noch nach Großbritannien oder umgekehrt in ein EU-Land ziehen – dann endet die Übergangsphase.
Was ändert sich konkret im Alltag für EU-Bürger*innen?
Die meisten Europäer*innen werden vom Brexit erst einmal kaum etwas merken – zumindest bis zum 31. Dezember 2020. Bis dahin gilt die Übergangsphase. Für EU-Bürger*innen bedeutet das: Zur Einreise nach Großbritannien benötigen sie weiterhin nur ein gültiges Ausweisdokument. EU-Studierende können an britischen Unis auch nach dem Brexit vergünstigt studieren, und das Erasmus-Programm wird zunächst verlängert. Die drei größten deutschen Netzbetreiber versicherten derweil, dass das EU-Roaming – also das Prinzip, dass SMS, Internet und Telefonie innerhalb der EU nicht mehr kosten dürfen als im Heimatland – zumindest für die Übergangsphase weiter gelten soll.
An anderer Stelle sind die Folgen des Brexit schon konkreter zu sehen und zu spüren: Nach Zahlen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages sind die Exporte von Deutschland nach Großbritannien bereits während der Brexit-Verhandlungen deutlich zurückgegangen. Unternehmen halten sich bei Investitionen und Neuanstellungen zurück, weil sie noch nicht wissen, wie die Handelsbeziehungen nach der Übergangsphase aussehen werden. Die Wirtschaft bereitet sich darauf vor, dass sich ab 2021 einiges ändert.
Was wird nach dem 31. Dezember 2020 passieren?
Das ist die große Frage. Es könnte immer noch zu einem No-Deal-Szenario kommen. Bis Ende 2020 will das Vereinigte Königreich mit der EU alles aushandeln, was im Austrittsabkommen noch nicht geklärt ist. Die Zeit ist sehr knapp. Das Abkommen sieht zwar vor, dass die Übergangsphase um bis zu zwei Jahre verlängert werden kann, wenn London das bis zum 1. Juli 2020 beantragt. Johnson hat diese Möglichkeit aber bisher ausgeschlossen. Darum müssen nun Prioritäten gesetzt werden: Für EU-Chefunterhändler Michel Barnier sind das: die Zusammenarbeit im Kampf gegen Verbrechen und Terrorismus und ein Handelsabkommen für Güter. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat betont, dass für sie die Personenfreizügigkeit an oberster Stelle steht: „Wenn Großbritannien keine Freizügigkeit für Personen gewährt, kann es auch keine Freizügigkeit für Waren, Kapital und Dienstleistungen geben“, sagte sie in einer Rede an der London School of Economics.
Klar ist, dass die EU am längeren Hebel sitzt: Sie vertritt rund 450 Millionen Bürger*innen, die als zahlungskräftige Konsument*innen für britische Firmen enorm wichtig sind. Allerdings müssen die verbleibenden 27 EU-Staaten in den kommenden Verhandlungen geeint auftreten. Wenn das gelingt, wird Johnson sich wohl auf ihre Bedingungen einlassen (oder die Übergangsphase doch noch einmal verlängern) müssen. Sonst droht seinem Land, dass es am 1. Januar 2021 ohne Handelsabkommen dasteht und dadurch ein nachträgliches No-Deal-Szenario mit hohen Zöllen und wirtschaftlichen Schäden eintritt.
Letzte Frage: Kommen die Brit*innen irgendwann zurück?
In absehbarer Zeit ist das eher unwahrscheinlich. Aber weil es im Vereinigten Königreich immer noch EU-Anhänger*innen gibt, die nicht aufgeben wollen, wurde bereits eine Kampagne für den Wiederanschluss gestartet: Die „Remainer“ heißen jetzt „Rejoiner“.
Titelbild: Sebastian Wells/OSTKREUZ