Mehr als 20.000 Menschen sind laut EU seit 2015 beim Fluchtversuch über das Mittelmeer gestorben oder werden vermisst. Dennoch begeben sich nach wie vor Flüchtende auf diese gefährliche Route. 2021 kamen insgesamt 117.496 Menschen über den Seeweg nach Europa (2020: 88.149) – die meisten aus Tunesien, Ägypten, Bangladesch, Syrien und Afghanistan. Die am häufigsten genutzte Route führt von Libyen oder Tunesien nach Italien. Dass die EU mit Schiffen Flüchtlingsboote zurück in libysches Gewässer drängt, wo die libysche Küstenwache die Menschen einsammelt und zurück ans Festland bringt, sorgt für Kritik von Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten. Andererseits wird NGOs, die Flüchtende aus Seenot retten, vorgeworfen, Anreize für Schlepper zu schaffen.
Die spanische Fotoreporterin Anna Surinyach fotografiert seit 15 Jahren Menschen auf der Flucht. Dafür reist sie auf Seenotrettungsschiffen mit oder besucht Flüchtlingslager wie das in Moria auf der griechischen Insel Lesbos.
fluter: Wie kam es dazu, dass Sie sich vor allem dem Thema Flucht widmen?
Anna Surinyach: Heutzutage gibt es weltweit 89,3 Millionen Menschen, die aufgrund von Verfolgung, Konflikten, Gewalt oder dem Klimawandel vertrieben wurden. Die meisten erleiden auf ihrer Flucht erneut Gewalt und andere Menschenrechtsverletzungen. Ich möchte mit meinen Bildern die Geschichten dieser Menschen erzählen, aber auch diejenigen zeigen, die für diese Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Für mich sind die guten Bilder nicht die, die mehr als tausend Worte sagen, sondern die, die tausend Fragen aufwerfen. Zum Beispiel die Frage, warum Menschen, die vor Konflikten im Irak, in Somalia oder der Demokratischen Republik Kongo fliehen, nicht genauso empathisch behandelt werden wie die Ukrainer.
Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie als Fotografin bei Ihrer Arbeit auf See?
Die Arbeit auf dem Meer ist logistisch nicht einfach. Aber es gibt NGOs wie Open Arms, Ärzte ohne Grenzen oder Sea-Watch, die trotz aller bürokratischen Hindernisse und ihrer Kriminalisierung durch die meisten europäischen Regierungen weiterhin Flüchtende vor dem Ertrinken oder dem Verdursten retten. Sie ermöglichen es auch Journalistinnen und Journalisten, über die Geschehnisse im Mittelmeer zu berichten.
Sehen Sie sich eher als Journalistin oder als Aktivistin?
Ich bin Journalistin. Ich glaube aber, dass Fotojournalismus nie objektiv ist, weil man die Geschichte immer aus einem bestimmten Blickwinkel macht – schon in dem Moment, in dem man entscheidet, was man zeigt und was nicht. Das bedeutet aber nicht, dass man ein Aktivist oder eine Aktivistin ist.
Sie sehen sehr viel Leid. Wie motivieren Sie sich immer wieder aufs Neue?
Es gibt nach wie vor so viele Menschenrechtsverletzungen an unseren Grenzen. Meine Motivation besteht darin, sie den Menschen zu zeigen und zu fragen, warum sie geschehen. Damit später niemand sagen kann, er oder sie hätte es nicht gewusst. Durch meine Bilder kann jeder sehen, was geschieht.
Anna Surinyach arbeitet für Tageszeitungen und das spanische Onlinemagazin „revista5w“, das über Fluchtbewegungen weltweit berichtet.