Thema – Europa

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Lipa weg hier

In Bosnien-Herzegowina harren Tausende Flüchtende weiter bei Minusgraden aus. Wir haben mit sechs von ihnen gesprochen

Camp Lipa

Ihr ursprüngliches Ziel: die EU. Ihr aktuelles Ziel: irgendwie den Winter überstehen. Tausende Flüchtende sitzen derzeit in Una-Sana in Bosnien-Herzegowina fest, bei Wind und Wetter. 

Der Kanton im Nordwesten des Landes grenzt an Kroatien und damit an die EU-Außengrenze, was ihn zum idealen Ausgangspunkt macht, um sich auf die Weiterreise in die EU vorzubereiten. Das heißt: eigentlich, denn die kroatische Grenzpolizei hindert die Menschen daran, die Grenze zu passieren. Solche, die es schaffen, werden – manchmal auch unter Einsatz von Gewalt – wieder abgeschoben. Dass die Außengrenze bewacht wird und geprüft werden muss, ob die Einreise erfolgen darf, entspricht den europäischen Einwanderungsgesetzen. Doch das brutale Zurückdrängen Eingewanderter, sogenannte Pushbacks, ist meist illegal, aufgrund der schwierigen Beweisführung rechtlich hoch umstritten und wird von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert. 

Die EU-Staaten haben sich darauf geeinigt, dass man auch an der Außengrenze schnelle Asylverfahren beantragen kann. Das Recht auf Asyl ist fest in EU-Regelwerken verankert. Die Realität an den Grenzen Bosnien-Herzegowinas sieht jedoch anders aus. Die Flüchtenden haben de facto kaum eine Möglichkeit, einen Asylantrag in der EU zu stellen – und hängen fest.

Verschärft hat sich die Lage mit dem Brand im Camp Lipa kurz vor Weihnachten. Zwar haben die Behörden Bosnien-Herzegowinas versucht, neue Camps zu errichten und bestehende leere zu reaktivieren. Dies scheiterte aber am Widerstand der Kommunen. Auch die EU-Mitgliedstaaten konnten sich trotz der Alarmsignale zahlreicher Menschenrechtsorganisationen nicht dazu durchringen, den Flüchtenden eine sichere Einreise zu gewähren und eine Prüfung ihrer Asylgesuche zu garantieren. Das Camp Lipa, das ursprünglich nur für den Sommer während der Pandemie genutzt werden sollte, war schnell überfüllt. Und es ist für den Winter mit Minustemperaturen absolut ungeeignet. Rund 1.000 Menschen, darunter auch viele Jugendliche, leben nun in dem Camp ohne Dach, ausreichend Lebensmittel, Kleidung und medizinische Versorgung. Hinzu kommt, dass viele Hundert Menschen in den Ruinen und Wäldern rund um die beiden Städte Bihać und Velika Kladuša ausharren. Wir haben mit sechs Flüchtenden gesprochen:

„Einer hat mir mit seiner bloßen Faust ins Gesicht geschlagen“

Das Erste woran ich denke, wenn ich morgens aufwache, ist, dass ich einen Asylantrag in Belgien stellen will. Ich hoffe, irgendwann meine Familie in Pakistan unterstützen zu können.

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Befarwa Musafar

Befarwa Musafer, 19 Jahre, aus Pakistan

In den letzten acht Monaten habe ich viermal versucht, über die kroatische Grenze in die Europäische Union zu flüchten. Erfolglos. Die kroatische Grenzpolizei hat wahllos mit Schlagstöcken auf uns eingeschlagen, Pfefferspray gesprüht und uns wieder zurück an die bosnische Grenze gebracht. Einer hat mir mit seiner bloßen Faust ins Gesicht geschlagen. Wenn ich sehe, dass sie anfangen, uns zu schlagen, versuche ich, mein Gesicht und meinen Körper zu schützen. Ich wehre mich nicht, damit die Polizisten nicht noch wütender werden. Mein Cousin wurde von vier Personen gleichzeitig verprügelt, sie haben ihm die Nase gebrochen. Sein Gesicht war so geschwollen, dass er seine Augen tagelang nicht richtig öffnen konnte. Anschließend nahmen sie uns die Rucksäcke, die Schlafsäcke, die Handys, unsere Powerbanks, unser Geld, die meiste Kleidung und unsere Schuhe ab. Ich weiß nicht, was sie mit den Handys und dem Geld gemacht haben, aber den Rest haben sie in der Nähe des Grenzübergangs in ein Loch geschmissen und verbrannt. Danach haben sie uns in der Nähe eines bosnischen Grenzübergangs aus dem Auto geschmissen.

„Wir sind auf uns gestellt“

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Asheaq

Asheaq, 26 Jahre, aus Kaschmir

Ich bin 26 Jahre alt und habe in Pakistan Medizin studiert. Hier in Bosnien habe ich keine Unterkunft, keine medizinische Versorgung, keine Möglichkeit, mich zu waschen. Die Situation ist katastrophal, und die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt. Wir organisieren uns in kleinen Solidargemeinschaften, weil hier niemand dazu in der Lage wäre, alleine zu überleben. Dabei kümmern wir uns um das Notwendigste und teilen unsere Ressourcen untereinander auf. 

Ich weiß nicht, was mit uns passieren soll, wie viele Tage wir es hier noch aushalten. Es gibt keinen anderen Ort, an dem wir unterkommen, an den wir gehen könnten. Wenn wir versuchen, über die kroatische Grenze in die Europäische Union zu flüchten, werden wir zurückgedrängt. Die kroatische Polizei geht dabei sehr gewalttätig vor. Mein Freund wurde letzten Monat in Kroatien aufgegriffen. Sie haben ihn verprügelt und zurück an die bosnische Grenze gebracht. Er ist dann barfuß 75 Kilometer zurück ins Camp Lipa gelaufen. 75 Kilometer barfuß und ohne warme Kleidung! Das ist die Situation, mit der wir zu kämpfen haben. Wir sind auf uns gestellt.

 „Sich hier ein neues Handy zu besorgen kostet 130 Euro. Davon kann eine pakistanische Familie einen Monat lang leben“

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Mohamed Han

Mohammed Han, 21 Jahre, aus Pakistan

Vor drei Jahren bin ich aus Pakistan geflüchtet. Nun bin ich seit zwei Jahren in Bosnien und habe inzwischen ungefähr 15-mal versucht, über die kroatische Grenze in die Europäische Union zu flüchten. Als die lokalen Behörden das Camp in Bihać letztes Jahr geschlossen haben, wussten wir nicht, wo wir hingehen sollen. Deswegen haben wir uns, eine Gruppe von zwölf Personen, entschieden, in die Ruine einer alten Fabrik zu ziehen. Dort gab es immer wieder Ärger mit zwei bosnischen Polizeibeamten, die mehrmals zu uns kamen und uns unsere Sachen abgenommen haben. Das war ein großes Problem, da wir beispielsweise ohne Handy keinen Kontakt zu unseren Familien oder zu freiwilligen Helfer*innen aufnehmen können. Sich hier ein neues Handy zu besorgen kostet zirka 130 Euro. Davon kann eine pakistanische Familie ungefähr einen Monat lang leben. Deshalb haben wir uns entschlossen, in dieses ausgebrannte abgelegene alte Haus umzuziehen. Hier versuchen wir jetzt, keine Aufmerksamkeit zu erregen und uns tagsüber so wenig wie möglich auf offener Straße aufzuhalten.

„Heute Morgen habe ich mit meiner Mutter telefoniert. Sie hat mich daran erinnert, dass morgen mein 25. Geburtstag ist“

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Hasseb Malik

Haseeb Malik, 24 Jahre, aus Kaschmir

In Kaschmir habe ich Ingenieurwesen studiert und für die UN gearbeitet. Wir haben Schulen gebaut. In der Grenzregion, in der wir gearbeitet haben, gab es immer wieder terroristische Anschläge der pakistanischen Taliban. Eines Tages ist ein Sprengsatz in dem Gebäude explodiert, in dem wir gerade gearbeitet haben. Mein Vorgesetzter wurde dabei getötet, und ich bin schwer verletzt aus dem Gebäude entkommen. Als ich zurück nach Hause kam, sagte mein Vater zu mir, dass ich durch meine Tätigkeit für die UN nicht mehr sicher sei und das Land verlassen müsse. Also bin ich gegangen. Ich bin nun seit zwei Jahren unterwegs und seit fünf Monaten in Bosnien. Ich lebe in diesem leer stehenden Haus mit ungefähr 120 anderen Flüchtenden. Wir müssen uns vor der Polizei verstecken und sind vollkommen auf die Nahrungsmittel und Sachspenden von freiwilligen Helfer*innen angewiesen. Heute Morgen habe ich mit meiner Mutter telefoniert. Sie hat mich daran erinnert, dass morgen mein 25. Geburtstag ist.

„Die Bevölkerung respektiert uns nicht“

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Muhammed Javed

Muhammed Javed, 21, aus Afghanistan

Der Krieg hat in Afghanistan alles zerstört. Es gab für mich keine Möglichkeit, zu studieren oder einen Job zu finden. Also habe ich mich vor drei Jahren auf den Weg in die Europäische Union gemacht. Ich war ein Jahr in der Türkei, um dort zu arbeiten und mich auf die Weiterreise vorzubereiten. Dann bin ich über Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Bosnien gekommen. Hier bin ich nun seit drei Monaten. Die Bevölkerung will uns nicht hier haben und respektiert uns nicht. Da es keine Möglichkeit gibt, irgendwo vernünftig unterzukommen, haben wir uns entschlossen, in diesem selbst gebauten Camp im Wald zu leben. Wir warten jetzt auf besseres Wetter, um vielleicht im März einen neuen Versuch zu unternehmen, über die kroatische Grenze zu kommen. Ich wünsche mir so sehr, dass ich in ein europäisches Land gehen kann, um dort studieren zu können und eine sichere Zukunft zu haben.

„Dieser Protest wird solange anhalten bis wir nicht mehr wie Tiere behandelt werden!“

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Ziaullah Zaheer

Ziaullah Zaheer, 26 Jahre, aus Afghanistan

Letzte Nacht [Anm. der Redaktion: 31. Dezember 2020] haben die Bewohner des Camps die Entscheidung getroffen, in einen Hungerstreik zu treten, da wir die Zustände, unter denen wir hier leben müssen, nicht länger akzeptieren wollen. Seit Monaten wird uns versprochen, eine Lösung zu finden oder dass sich die lebensgefährliche Situation hier verbessern wird. Bisher ist nichts passiert. Deshalb demonstrieren wir heute und werden zusammen für unsere Rechte kämpfen! Seit das Camp vor mehr als 10 Tagen abgebrannt ist, waren keine unabhängigen Beobachter*innen hier. Mit dieser Protestform bitten wir alle Menschenrechtsorganisationen eindrücklich, hierher zu kommen und sich mit der Situation all dieser Flüchtenden hier auseinanderzusetzen. Die Europäische Union muss sich endlich dafür einsetzen, eine sichere Flucht in ihre Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Dieser Protest wird solange anhalten, bis wir nicht mehr wie Tiere behandelt werden und eine Lösung für uns gefunden wird!

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.