Das Heft – Nr. 73

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In puncto Gastfreundschaft unterscheidet sich Deutschland ganz schön von meiner Heimat

Foto: Hackemann/picture alliance/dpa

Es gibt ein Lied, das jedes Kind in Italien singen kann. Es geht so: „Aggiungi un posto a tavola, che c’è un amico in più“, zu Deutsch: „Stell einen Stuhl dazu, weil noch ein Freund kommt.“

Das Lied ist ein Manifest italienischer Gastfreundschaft und gibt Regeln vor: „Die Tür ist immer offen, das Licht stets angeschaltet. Wenn jemand vorbeikommt, renne ihm entgegen und reiche ihm deine Hand.“

Für Gäste nur das Beste

Ich bin in Italien mit diesem Lied groß geworden, bei meiner Oma, die in einer Schublade immer eine Packung Pralinen bereithielt, um unerwarteten Gästen zum Espresso eine Kleinigkeit anbieten zu können.

Eine Etage über der Wohnung meiner Oma lebten wir. Hier kochte meine Mutter für alle, die zu Besuch kamen. Auch für die Bands, deren Konzerte mein Vater manchmal in seiner Freizeit organisierte. Natürlich aßen und schliefen die Musiker bei uns.

Wenn eine Freundin bei mir übernachtete, legte meine Mutter eine Matratze auf den Boden – für mich. Die Freundin übernahm mein Bett. Den Tisch bedeckten wir für uns nur mit einer Plastikdecke, für Gäste gab es die „tovaglia buona“, die „gute Decke“, aus Stoff und immer frisch gewaschen. Es gab auch die „guten Tassen“, die „guten Teller“ und die „gute Bettwäsche“.

Als ich 2015 nach Hamburg zog, war für mich selbstverständlich, dass ich mich bei den Nachbarn im Haus vorstellte. Ich backte an Ostern ein Osterlamm, färbte Eier und klingelte bei Herrn und Frau S., beide um die 70. Die Tür ging auf, frohe Ostern, ich sei die neue Nachbarin, hier ein kleines Geschenk für Sie. Frau S. sah mich skeptisch an, bedankte sich, nahm Lamm und Eier und machte die Tür zu. Ich weiß noch, wie ich ratlos im Treppenhaus stand. Was hatte ich falsch gemacht?

Ich blieb hartnäckig. An Weihnachten brachte ich den Nachbarn Plätzchen, im nächsten Jahr wieder ein Osterlamm. Ihre Wohnung habe ich bis heute nicht betreten. Doch fast vier Jahre nach unserer ersten Begegnung fand ich kurz vor Weihnachten eine neue Fußmatte vor meiner Tür. Ich dachte, wie nett, ein Geschenk der Hausverwaltung. Am Tag darauf traf ich meine lächelnde Nachbarin im Treppenhaus: „Haben Sie unser Weihnachtsgeschenk gefunden?“, fragte sie. Mein Herz sprang vor Freude.

Und dann: „Du bist so deutsch geworden.“

Mit der Zeit habe ich gelernt, dass es in Deutschland unhöflich ist, spontan bei Menschen vorbeizuschauen. Die Regel lautet: sich verabreden. Am besten nach einem Blick in den Kalender. Mittlerweile habe ich mich so stark angepasst, dass ich neulich einen sizilianischen Freund, der in Deutschland lebt, per Nachricht fragte, ob wir telefonieren wollten. „Klar“, schrieb er zurück. Und dann: „Du bist so deutsch geworden.“

Doch deutsche Zurückhaltung gegenüber Gästen kann auch befreiend sein. Ich weiß noch, wie ich anfangs jede Absage begründet habe. Um Gästen zu erklären, dass ihr Besuch gerade nicht passt, braucht man in Italien nämlich faule Ausreden: einen toten Hund, eine tote Oma. Neulich habe ich sogar eine Internetseite mit Ausreden für Gäste gefunden, die einen mehrtägigen Aufenthalt planen. Eine davon – kein Scherz – lautet: „Wir werden ab morgen im Wohnzimmer einen Schlagzeugkurs für Pubertierende geben.“

Erst mit der Zeit habe ich von deutschen Freunden gelernt, dass ein einfaches „Ich kann nicht“ oft ausreicht.

Titelbild: Hackemann/picture alliance/dpa

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.