Das Heft – Nr. 73

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Vom Mögen

Warum haben manche viele Freunde und andere gar keine? Und was machen die sozialen Medien aus unseren Beziehungen? Ein Gespräch mit der Freundschaftsforscherin Erika Alleweldt

Foto: Josh Kern

fluter: Freunde zu haben erscheint vielen als etwas Selbstverständliches. Wa­rum ist es so wichtig, Freundschaft zu erforschen?

Erika Alleweldt: Genau aus diesem Grund – weil Freundschaft zum Leben dazugehört und auch immer bedeutender wird. Angesichts des Wandels der Familienstrukturen, der steigenden Zahl allein lebender Singles, aber auch mit der wachsenden Bedeutung von beruflichen Netzwerken erlangt Freundschaft zunehmend die Form von sozialem Kapital. Und das ist in unserer Gesellschaft ungleich verteilt. Wer wenig Freunde hat, kann stark isoliert sein. Die Vereinsamung von Teilen der Bevölkerung nimmt zu. Wer aber viele Freunde hat, für den können sie zu einer Ersatzfamilie werden. All das müssen wir uns genau anschauen.

Freundschaft wird wichtiger, und zugleich vereinsamen immer mehr Menschen? Wie kann das sein?

Tatsächlich wird Freundschaft als zu selbstverständlich betrachtet. Es wird zu wenig darüber gesprochen, dass es auch voraussetzungsvoll ist, Freundschaften zu führen. Wir können feststellen, dass mit steigendem sozialen Status die Freundeskreisgrößen wachsen. Man braucht also auch die nötigen Ressourcen, um Freundschaften zu pflegen.

Welche Art von Ressourcen?

Erst einmal finanzielle. Zusammen in die Kneipe gehen kostet ja schon Geld, erst recht ein gemeinsamer Ausflug oder Urlaub. Auch leben Freunde heute oft nicht mehr alle in der näheren Umgebung, man muss sich also auch die nötige Mobilität leisten können. Außerdem braucht man Kommunikationskompetenzen und Konfliktfähigkeit, die man am besten schon früh erlernt. Wir beobachten bei höheren Bildungsschichten, dass die Eltern die Kontakte für ihre Kinder zunächst organisieren und sie unterstützen, wenn es mal Konflikte gibt. Das kommt bei den unteren sozialen Schichten seltener vor.

Foto: Josh Kern

#ohnefilter: Alles begann damit, dass der Fotograf Josh Kern seine Freunde beim Skaten fotografierte …

Stichwort „soziales Kapital“: Welche Vorteile bringen einem diese Fähigkeiten später im Leben?

Ich habe in meiner Studie Frauen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten befragt, welche Bedeutung Freundschaften für sie haben. Besonders deutlich wurde an den Frauen in Leitungspositionen, die eine höhere Bildung haben und einem starken beruflichen Druck ausgesetzt sind, wie wichtig es für sie ist, einen großen und repräsentativen Freundeskreis zu haben. Und auch ein gutes berufliches Netzwerk vorweisen zu können, das vom Freundeskreis oft gar nicht mehr klar zu trennen ist. Eine Teilnehmerin, die im Kultursektor tätig ist, sagte, dass sie auf Veranstaltungen immer zeigen können müsse, dass sie die halbe Stadt und die wichtigen Leute kennt. Freunde sind schon etwas, das man heute haben muss.

Was bedeutet das für eine Freundschaft, wenn es nur noch um Networking geht?

Manche Studienteilnehmerinnen sagten wirklich, dass sie da gewisse Störgefühle haben, weil sie mit Freundschaft ja eigentlich etwas anderes verbinden. Ich denke, dass so eine Nutzenfreundschaft aber auch gut funktionieren kann, wenn man sich zu diesem Zweck trifft und einander sympathisch findet. Wenn beide Seiten damit offen umgehen, dann ist das keine Entwertung, sondern eben eine bestimmte Form von Freundschaft.

„Amerikaner bezeichnen einen viel größeren Kreis von Menschen als friends als zum Beispiel Deutsche.“

Sind die Kontakte in sozialen Netzwerken richtige Freunde?

Die große Befürchtung, dass durch das Aufkommen der sozialen Netzwerke irgendwann reale Freundschaften nicht mehr geführt werden, hat sich nicht bewahrheitet. Wir können eher positiv feststellen, dass mit Social Media ein zusätzlicher Rahmen entstanden ist, um Freundschaften zu pflegen. Meine Untersuchungen zeigen, dass die sozia­len Medien hauptsächlich dazu genutzt werden, bestehende Kontakte zu pflegen, und weniger, um neue aufzubauen. Wichtig ist nur, sich bewusst zu machen, dass das keine reale, sondern eine virtuelle Verbundenheit ist.

Foto: Josh Kern

… Jahre später ist daraus ein Tagebuch geworden, das das Leben seiner Clique zeigt – beim Feiern, in der U-Bahn, in der WG-Küche

 

Was macht echte Verbundenheit und echte Freundschaft aus?

„Die große Geschichte der Freundschaft“ wurde leider auch noch nicht geschrieben. Aber ein bis heute wichtiger Zugang ist immer noch Aristoteles’ Unterscheidung von Zweckfreundschaften, die man um der Lust und um des Nutzens willen führt, und Tugendfreundschaften, die man um ihrer selbst willen führt. Dieses klassische Ideal der Verschmelzung mit dem anderen, das mit dem Freundschaftskult der deutschen Romantik im 18. Jahrhundert noch einmal stark wieder aufgelebt ist, prägt gerade den deutschen Freundschaftsbegriff bis heute. Das sind hehre Ansprüche, die an der heutigen Lebensrealität teilweise scheitern müssen. Der angelsächsische Freundschaftsbegriff ist da pragmatischer. Amerikaner etwa bezeichnen einen viel größeren Kreis von Menschen als „friends“.

Und wenn man die Sache ganz nüchtern sozialwissenschaftlich betrachtet: Wie würden Sie Freundschaft definieren?

Aus einer soziologischen Perspektive lassen sich Freundschaften als freiwillige, gegenseitige und persönliche Beziehungen beschreiben. Auch Kriterien wie Ganzheitlichkeit, Vertrauen und Intimität werden oft genannt.

„Was wir heute unter Freundschaft verstehen ist stark durch eine Männerperspektive beeinflusst worden.“

Macht der Umstand, dass es sich um eine freiwillige und informelle Beziehung handelt, für die es keine klaren Regeln gibt, Freundschaft eher stark oder eher verletzlich?

Dass Freundschaft nichts Institutionalisiertes wie etwa die Ehe ist, macht es zunächst schwieriger. Aber es gibt durchaus Regeln impliziter Natur. Dass man zum Beispiel, wenn eine Freundin in Not ist, alles stehen und liegen lässt und ihr zu Hilfe kommt. Die Freiwilligkeit und das Informelle machen dabei gerade die Attraktivität dieser Beziehung aus.

Der Soziologe Shmuel Eisenstadt sagte, dass darin auch ein subversives Potenzial steckt. Was ist gemeint?

Eisenstadt beschreibt, dass Freundschaft einen Ort bildet, an dem man über gesellschaftliche Normen hinausgehen und politischen Widerstand entwickeln kann. Freundschaft ist im Gegensatz zur Familie frei gewählt. Da komme ich mit meinesgleichen zusammen und bin eher geneigt, gemeinsam bestimmte Ideen zu verfolgen. Gerade in repressiven Systemen ist es natürlich umso wichtiger, dass Loyalität und Vertrauen als die Urkriterien von Freundschaft erfüllt sind. Aber diesen Geborgenheitsraum, den Freundschaft mit sich bringt, brauchen die Menschen auch in unserer Gesellschaft. Auch hier gibt es Härten, für die Freundschaft eine Kompensationsfunktion hat. Als ein Raum, in dem ich mich sozial sicher und anerkannt fühle, so wie ich bin.

Foto: Josh Kern

„Durch das Teilen dieser alten Notizen und Bilder, die sehr persönlich sind, will ich meine Angst vor Ablehnung überwinden“, sagt Josh Kern, der in Dortmund Fotografie studiert

 

Andererseits waren und sind Freundeskreise oft ein Mittel der Ausgrenzung. Gerade Männerbündeleien haben eine lange Tradition.

Das ist wahr. Die dominierende Stellung der Männer zeigt sich allerdings nicht nur in Bündeleien und Seilschaften, die sich gegenseitig begünstigen und andere, besonders Frauen, raushalten. Die ganze Geschichte der Freundschaft und was wir heute unter Freundschaft verstehen ist stark durch eine Männerperspektive beeinflusst worden. Und auch stark durch Mitglieder gehobener gesellschaftlicher Schichten. Männerfreundschaften, wie die zwischen Goethe und Schiller, sind historisch viel besser dokumentiert als Frauenfreundschaften. Die gab es natürlich auch immer, aber über sie wurde nicht viel geschrieben. Für Frauenfreundschaften gab es keinen offiziellen Raum. Die Frauen mussten sich das erst erkämpfen.

Gar nicht zu reden von Freundschaften zwischen Frauen und Männern, die sogar heute noch als schwierig gelten. Warum ist das so?

Zunächst einmal ist die Vorstellung, Frauenfreundschaften und Männerfreundschaften seien sehr unterschiedlich, immer noch weit verbreitet. Und ohne solche Differenzierung jetzt festschreiben zu wollen: Ja, Studien zeigen durchaus, dass es gewisse Unterschiede gibt. Frauen pflegen öfter sogenannte Face-to-Face-Freundschaften, Männer Side-by-Side-Freundschaften. Das heißt, Männerfreundschaften sind eher aktivitätsbezogen. Sie unternehmen etwas zusammen, und dadurch entsteht Nähe und Intimität. Aber es wird nicht groß gesprochen. Viele Frauen hingegen treffen sich lieber, um zu sprechen, auch über die Freundschaft selbst.

Aber vor allem wird doch immer unterstellt, dass der Sex dazwischenkommen muss.

Diese Vorbehalte gab es lange. Aber unsere Studien zeigen, dass gemischtgeschlechtliche Freundschaften immer öfter vorkommen und dass auch Sex immer weniger als Ausschlusskriterium betrachtet wird. Für Freundschaften, in denen auch sexueller Kontakt sein darf, gibt es mit „Freundschaft plus“ inzwischen ja auch einen Begriff. Insgesamt beobachten wir, dass es zu einer Pluralisierung von Lebens- und Freundschaftsformen kommt und dabei auch die Grenze zwischen Liebe und Freundschaft durchlässiger wird.

„Freundeskreise sind recht homogen, was Milieu, Bildung, Einkommen und sozialen Status betrifft.“

Durchlässigkeit ist für Sie auch in anderer Hinsicht ein wichtiges Forschungsthema. Wie oft werden denn Freundschaften über Milieugrenzen hinweg geschlossen?

Das ist leider immer noch die große Ausnahme. In Wirklichkeit sind Freundeskreise recht homogen, was Milieu, Bildung, Einkommen und sozialen Status betrifft. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Dieser Effekt ist leider stärker als die Überzeugung, Unterschiede zögen sich an.

Erika Alleweldt lehrt an der Hochschule für angewandte Pädagogik Berlin. Sie ist Mitherausgeberin eines Buchs zur Soziologie der Freundschaft (Foto: privat)

Wie ließe sich da gegensteuern?

Es gibt ein Konzept, das in den USA modellhaft praktiziert wird: Schulen organisieren, dass zu Kindergeburtstagen grundsätzlich immer alle Kinder aus einer Klasse eingeladen werden. Um so einem sozialen Ausschluss von vornherein entgegenzuwirken. Das hat dann noch den schönen Nebeneffekt, dass auch die Eltern sich bei solchen Gelegenheiten treffen. Aber das ist nur ein Beispiel. Niemand will Freundschaften verordnen. Es ist aber möglich, Bedingungen zu schaffen, in denen Freundschaft besser entstehen kann, sodass sich die Grenzen zwischen sozialen Milieus nicht noch weiter festigen. Überhaupt bin ich überzeugt, dass man durch ganz neue Institutionen alternative Lebenspraxen und damit auch neue Formen von Freundschaft entstehen lassen kann.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel in Mehrgenerationenhäusern. Eine Freundschaft zwischen einer 90- und einer 40-Jährigen, die ihr im Alltag helfen kann, gibt es im normalen Leben leider selten. Hier kann sie sich entwickeln, und hier ist es auch vollkommen in Ordnung, dass sie auf so einer Hilfebeziehung beruht. Denn wer im Alter auf seine Freunde hofft, sollte sich klarmachen, dass dauerhafte Unterstützungsaufgaben innerhalb von bestehenden Freundschaften problematisch sind. Weil Freundschaft ja eigentlich von Reziprozität lebt, also davon, dass man das, was man bekommt, auch zurückgeben will. Und das funktioniert ab einem bestimmten Punkt nicht mehr, wenn man hilfsbedürftig ist.

Fotos: Josh Kern

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