Es ist Silvester, und ich bin mit meinen beiden engsten Freunden auf einer großen Party. Den einen kenne ich aus der Uni, mit dem anderen bin ich aufgewachsen. Auf mehreren Stockwerken eines besetzten Hauses in Berlin hängen Leute herum, rauchen selbst gedrehte Zigaretten und trinken Bier. Wir stehen im Hof am Lagerfeuer. Der Spaß ist an diesem Abend ungleich verteilt: Mein Unifreund hat viel davon, scherzt und flirtet mit anderen Gästen. Bei meinem Kindheitsfreund geht er gegen null, seit geraumer Zeit flucht er nur noch. Das schlimmste Silvester seines Lebens, wird er später sagen. Es ist ihm hier zu schmuddelig, zu oll, zu dreckig. Er wird nicht warm mit den anwesenden „Hippies“ und verschwindet kurze Zeit später.
Beide stehen mir sehr nah, ihre Lebenswelten haben jedoch nicht viel gemein. Mein Unifreund hat nach dem Abitur eine Weile in London gelebt und ist auch sonst ziemlich viel auf Reisen. Mein Kindheitsfreund machte nach der Schule eine Ausbildung bei Burger King und arbeitete lange als Sicherheitsmann. Des einen Eltern sind Drehbuchautor und Therapeutin, die des anderen Koch und Putzfrau. Der eine raucht ausschließlich Selbstgedrehte, der andere hat immer eine Marlboro-Schachtel dabei. Ihre jeweiligen Freundeskreise sind extrem unterschiedlich, und doch bin ich selbst Teil von beiden.
Zwischen den Schubladen
Ganz zugehörig habe ich mich aber nie einer Gruppe gefühlt. Ich klemmte zwischen den Schubladen fest: zu prollig für die Alternativen, zu deutsch für die Ausländer. Obwohl ich es mir wünschte, hatte ich nie die eine Clique, wie man sie aus vielen Filmen kennt – eine, in der alle ähnlich aussehen, die gleichen Interessen haben und die gleiche Musik feiern. Stattdessen waren meine Freundeskreise immer sehr verschieden, und in jedem spielte ich eine etwas andere Rolle.
Zuerst passierte das beim Wechsel auf die Oberschule. Die befand sich nämlich im Osten Berlins, und das Herkunftsmilieu vieler meiner neuen Schulkameraden unterschied sich wesentlich von meinem. Ich komme aus Kreuzberg, und auf meiner Grundschule waren fast ausschließlich Kinder mit Migrationshintergrund.
„Während ich mit Schulfreunden Wodka trank, hing ich mit meinen Kreuzberger Jungs in Shisha-Bars herum“
Plötzlich hatte ich also zwei Bekanntenkreise. Während ich mit meinen neuen Schulfreunden auf Partys Wodka trank, herumberlinerte und Fußballlieder grölte, hing ich mit meinen Kreuzberger Jungs in Shisha-Bars herum, schwor sehr viel auf Personen und Dinge und spuckte U-Bahnhöfe voll – ohne jemals die technische Raffinesse meiner Kumpels zu erreichen. In der Schule war ich frech, versuchte ein bisschen den Rebellen zu spielen, während ich in Kreuzberg eher ein Mitläufer war.
Mir gefiel die Art meiner aktuellen Schulfreunde, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Was ich aber nicht mochte, war ihr ausgeprägter Individualismus. Bei meinen Kreuzberger Freunden ging es viel gemeinschaftlicher zu. Ein imaginäres Konto, das ständig Entscheidungen auf persönlichen Profit oder Verlust abwägt, gab es da nicht. Sie wären auch heute noch die Ersten, die bei mir auf der Matte stehen würden, um mir zum Beispiel beim Umzug zu helfen.
„Ich merke, wie befreiend es sein kann, nicht nur in großen Jungsgruppen unterwegs zu sein“
Während meiner letzten Schuljahre und kurz danach kamen zwei weitere Freundeskreise dazu. Erstens die Clique meiner besten Freundin. Eine gemischte Jungs- und Mädchengruppe. Die meisten sind eher introvertiert, zurückhaltend, an vielem interessiert. Es ist das erste Mal, dass ich eine enge Beziehung zu einem Mädchen habe, ohne Hintergedanken. Ich merke, wie befreiend es sein kann, nicht nur in großen Jungsgruppen unterwegs zu sein. Bei ihr kann ich auch meine verletzlicheren Seiten zeigen. Das ganze Aufplustern und das Gefühl, sich beweisen zu müssen, das ich sonst gewohnt bin, fällt weg. Andererseits ist die Clique manchmal so ruhig, dass ich dort öfter zum Wortführer und Clown werde, wogegen ich bei meinen anderen Freunden eher als der Stille gelte.
Ins Nachtleben stürzen kann ich mich mit ihnen nur bedingt. Umso besser klappt das dagegen mit den „Cousins“, einer Gruppe Männer aus Südneukölln. (Nur einer von ihnen ist wirklich mein Cousin, aber durch ein Missverständnis hat sich dieser Name für alle durchgesetzt.) Alle sind laute Typen, mit denen ich gut herumblödeln und einen Abend lang über Unsinn diskutieren kann („Würdest du lieber gegen einen Bären oder gegen einen Gorilla kämpfen?“). Irgendwann kann die ewige Stumpfheit aber auch nerven, und ich sehne mich wieder nach meiner besten Freundin. Was ich jedoch an den Cousins liebe, ist, dass keiner von ihnen ein besonderes Geltungsbedürfnis hat.
„Mal diskutiere ich beim Wein kulturelle Aneignung, dann wieder sitze ich im Park und trinke Whiskey-Cola aus der Dose“
Diesen Schlag Mensch lerne ich nämlich seit Kurzem in großer Zahl kennen. Ich gehe oft in Clubs und gerate dort immer wieder an Menschen, deren Lebensinhalt gewissermaßen aus Ausgehen besteht. Durchgestylte Kosmopoliten, die ihren Instagram-Auftritt akribisch kuratieren, auf gesponserten Events Freigetränke schlürfen und Lebensetappen in anderen Metropolen hinter sich haben. Enge Freundschaften entstehen da eher nicht, mir fehlt bei den meisten eine gewisse Bodenständigkeit. Ich teile aber kulturelle Interessen mit einigen und genieße, dass viele von ihnen aus dem Ausland sind. Hinweise auf meine Sozialisation kann ich beim Englischsprechen ganz gut verbergen.
Es kommt nun also vor, dass ich einen Abend Tee trinkend im Shisha-Café verbringe und den nächsten mit einem Herrengedeck in der Eckkneipe. Mal diskutiere ich beim Wein mit einer Künstlerfreundin über kulturelle Aneignung, dann wieder sitze ich im Park mit Bluetooth-Lautsprechern, höre 2000er Deutschrap und trinke Whiskey-Cola aus der Dose.
„Ich versuche, nicht völlig zum sozialen Chamäleon zu werden“
Zwar benehme ich mich in jeder Konstellation etwas anders, aber ich versuche, nicht völlig zum sozialen Chamäleon zu werden. Man muss es nicht immer allen recht machen. Mit manchen Freunden spreche ich mehr Berlinerisch, bei anderen streue ich vielleicht mal ein arabisches Wort ein. Aber ich grüße nicht gleich überschwänglich mit „As-salamu alaikum“ und Bruderkuss auf die Wange. Auch zu meinen politischen Überzeugungen stehe ich: Bei meinen Freunden drücke ich kein Auge zu, wenn sie sich homophob, rassistisch oder frauenfeindlich äußern.
Ich finde es schön, dass ich Zugang zu verschiedenen Lebenswelten habe. Ich kann mir überall was abgucken. Und es fällt mir leichter, über Äußerlichkeiten, Geschmäcker und Stile hinwegzusehen. Denn was wirklich zählt, sitzt eh tiefer als Kleidung oder Frisur.
Illustration: Renke Brandt